Laudien,K., Prof.Dr.: Vertiefende Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR. Ein Bericht über ein Forschungsprojekt und seine Vorgeschichte

Vorbemerkungen

Das Bundesministerium des Innern fördert gegenwärtig ein Forschungsprojekt, das sich der Heimerziehung der ehemaligen DDR widmet.[2] Es steht unter dem Titel: „Vertiefende Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR“. Das Projekt beinhaltet eine Reihe von Themen, die bisher wenig Beachtung gefunden haben. Um dieses Projekt verstehen und würdigen zu können, ist es nötig, die Aufarbeitungssituation in der DDR und die Geschichte der Aufarbeitung seit 1990 kurz anzureißen. Deshalb möchte ich im ersten Teil die Schwierigkeiten darstellen, die einer Reflexion der Heimsituation in der DDR entgegenstanden und die zeigen sollen, dass der Heimpädagogik in der DDR eine geringe Beachtung zukam. Anschließend werde ich im zweiten Teil die Etappen der Aufarbeitung seit 1990 umreißen, um am Ende – im dritten Teil – das gegenwärtige Forschungsprojekt mit wenigen Linien zu skizzieren.

In der Bundesrepublik waren die Zustände in den Kinderheimen seit den 1960er Jahren Gegenstand des öffentlichen Interesses. Dadurch wandelte sich der gesellschaftliche Blick auf die Heimerziehung insgesamt, mit der Folge, dass sich das Leben für die Kinder in den Heimen verbesserte. Begleitet und begründet wurde dieser Wandel von einer kritischen Sozialwissenschaft.

Die Gründung der DDR ging dagegen nicht einher mit der Wiederbelebung einer solchen Wissenschaftstradition. Wie alle Geisteswissenschaften so bediente sich insbesondere die Pädagogik der Sprachregelungen der sozialistischen Weltanschauung und entsprach inhaltlich den Vorgaben und Erwartungen der Parteispitze. „Wissenschaftliche“ Veröffentlichungen, Bücher, Artikel und andere Beiträge, die in der DDR verfasst wurden, lassen deshalb nur einen begrenzten Blick auf die Realität zu. Zu Beginn dieses Berichtes muss also zunächst festgestellt werden, dass eine sachliche Aufarbeitung der DDR-Heimerziehung erst nach der Wende begonnen werden konnte.

 

1)     Die Bedeutung der Heimerziehung in der DDR

Die Möglichkeiten der Entwicklung einer sachgerechten Heimpädagogik waren in der DDR nicht günstig. Sie wurden dadurch begrenzt, dass der Bereich Jugendhilfe/Heimerziehung von einer politischen Prämisse („Interessenharmonie“), einer sozialpädagogischen Erwartung („Absterben der Jugendhilfe“), eines gesellschaftlichen statt eines problemorientierten Erziehungskonzeptes („sozialistische Persönlichkeit“) und von einer Diskrepanz von Theorie und Praxis („Nischengesellschaft“) beherrscht war.

Das Verhältnis von Bevölkerung und Staat stand in der DDR unter der politischen Prämisse, dass zwischen beiden eine „Interessenharmonie“ besteht. Dass die Individualinteressen jedes Bürgers oder Menschen mit denen der Gesellschaft, der Regierung und der Partei übereinstimmen, wurde als eine „objektive“ Gegebenheit aufgefasst. Seit 1968 stand deshalb in der Verfassung der DDR: „Die Übereinstimmung der politischen, materiellen und kulturellen Interessen der Werktätigen und ihrer Kollektive mit den gesellschaftlichen Erfordernissen ist die wichtigste Triebkraft der sozialistischen Gesellschaft.“ Konkretisiert und angewendet auf die Jugendhilfe, lautet die Verfassungstatsache: „In der Deutschen Demokratischen Republik haben Staat und junge Generation zum ersten Mal in der deutschen Geschichte gemeinsame Interessen und Ziele.“[3] Als eine für die Jugendhilfe maßgebliche Ausgangsbedingung konnte deshalb für das Verhältnis von Heimkind und Institution Heim formuliert werden: „Auf der Grundlage der objektiven Übereinstimmung der gesellschaftlichen und persönlichen Interessen kann in der sozialistischen Gesellschaft der Widerspruch zwischen dem objektiven Soll-Wert der Gesellschaft und dem individuellen Ist-Wert der Persönlichkeit, das heißt zwischen Individuum und Gesellschaft, gelöst werden“.[4]

Der Eigentümlichkeit dieser Prämisse entsprechend war auch die sozialpädagogische Erwartung besonders. Sie lautete, dass die Ursachen für soziale Probleme im Maße der Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft (also der Verwirklichung der Interessenharmonie) vermindert und schließlich ganz überwunden würden.

Soziale Probleme konnten nicht im Sozialismus entstanden sein, und noch bestehende soziale Probleme (z.B. „erziehungsschwierige Kinder“) waren – nach dieser Auffassung – nicht durch DDR-interne Faktoren entstanden, sondern durch das „Westfernsehen“, die „Schundliteratur“, „die Popmusik“ oder ein anderweitig vom Einfluss des Kapitalismus durchsetztes Erziehungsmilieu bedingt.

Bereits 1950 ist deshalb die ideale, aber unter realen Verhältnissen kaum zu verwirklichende Einsicht, nach der „die beste Sozialfürsorge diejenige ist, die sich selbst aufhebt“ von der damaligen Ministerin für Arbeit und Gesundheit, Jenny Matern als eine Tatsachenfeststellung über das Sozialsystem DDR aufgefasst worden: „In der DDR wird danach gehandelt“.

Das bedeutete, dass man die Verantwortung für den Bereich Jugendhilfe/Heimerziehung dem Ministerium für Volksbildung (ein Ministerium für Arbeit und Soziales wurde nicht benötigt) übertrug. Sie war – nach Auskunft dortigen Referatsleiters Eberhard Mannschatz – als eine „Maßnahme auf Zeit“ gedacht,[5] galt als “Schönheitsfehler des Sozialismus” und deshalb als „Überbleibsel“ des Kapitalismus.

Neben diesen beiden Faktoren, die erklären, weshalb die offizielle DDR-Pädagogik der Heimerziehung wenig eigene Aufmerksamkeit entgegen brachte, muss ein Dritter Faktor, der die Besonderheit der DDR-Gesellschaft betrifft, angesprochen werden.

Die DDR-Gesellschaft/der DDR-Staat (der Unterschied von Staat und Gesellschaft wurde in der DDR praktisch und theoretisch bestritten) war insgesamt „pädagogisch“ verfasst. Sie war nach ihrem offiziellen Selbstverständnis von einem universalen Erziehungsanspruch getragen und legitimiert: die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit. Das Hauptanliegen der sozialistischen Propaganda und zugleich das höchste Erziehungsziel war die Herausbildung eines Menschen, dessen Persönlichkeit keine Spannung zur sozialistischen Gesellschaft aufwies. Dieser Erziehungsanspruch – der die Frage, „wer erzieht die Erzieher?“ nicht kannte – galt allen Menschen, auch wenn er vorerst nur im eigenen Herrschaftsbereich angegangen werden konnte.

Die Heimerziehung stellte diesbezüglich keine Ausnahme dar, sondern ihr wurde unter diesem Ideal und angesichts seiner Bedeutung keine eigene, d.h. für die spezifischen Probleme der ihr anvertrauten Kinder entwickelte sozialisationstheoretische Aufgabe zuerkannt. Die Erziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“ galt ohne sozialpädagogische Modifikation auch für die Insassen der Kinderheime. Es ist in der DDR nur ein einziges Buch, das die Heimerziehung zusammenhängend und systematisch behandelte, publiziert worden. Es wurde von einem Autorenkollektiv verfasst und erfüllte die Funktion einer offiziellen und zugleich normativen Stellungnahme zur DDR-Jugendhilfe und zur Heimerziehung. In diesem „sozialpädagogischen“ Werk wird die Berechtigung sozialpädagogischer Zuwendung im Grundsatz problematisiert: Neben der kommunistischen Erziehung sind „keine speziellen Ziele und Inhalte für die Heimerziehung [vonnöten] (Zusatz d. Autors), gelten keine besonderen Prinzipien für die Gestaltung des Erziehungsprozesses.“[6] Diese Aussage galt auch für die aus Sicht der DDR-Jugendhilfe mit den schwersten Erziehungsproblemen belasteten Kinder und Jugendlichen in den Jugendwerkhöfen. Die für ihr Erziehungswohl entwickelte „sozialpädagogische“ Zuwendung bestand vor allem im „Einsatz zu gesellschaftlich nützlicher Arbeit sowie durch kulturelle und sportliche Betätigung“.[7]

 

2)     Aufarbeitung nach der Wende 1992-2010

Aufgrund dieser in Abschnitt 1 beschriebenen Bedingungen konnte die Aufarbeitung der DDR-Heimerziehung – anders als in Westdeutschland – erst nach der Revolution von 1989/90 beginnen. Im Gefolge der Bemühungen des “Runden Tisches Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren in der BRD”, der zunächst nur den ehemaligen Westteil betraf, wurde das Thema Rehabilitierung und Milderung der Folgeschäden des Heimaufenthaltes auch für Betroffene aus den Neuen Bundesländern diskutiert.

Im Dezember 2010 hat das Land Berlin eine Forschungsgruppe einberufen, die die Heimsituation in Berlin – in Ost und West und mit unterschiedlichen Zeiträumen (Ost 1945-1990; West 1945-1975) – untersuchen sollte. Der im August 2011 vom damaligen Wissenschaftssenator Zöllner veröffentlichte Bericht[8] enthielt ein kleines Kapitel über die Heimsituation im ehemaligen Ost-Berlin[9]. Dieses Kapitel hat vielfältige Kritik und Zustimmung erfahren. Es war damit jedoch – gestützt auf die Arbeiten von Hans-Ulrich Krause, Christian Sachse und Verena Zimmermann – der erste in die politischen Entscheidungen hineinwirkende wissenschaftliche Bericht, in dem einerseits die Gemeinsamkeiten mit der westdeutschen Heimerziehung und andererseits am Beispiel von Berlin die Besonderheiten der DDR-Situation beschrieben wurden. Strittig war bereits während der Abfassung des Berichtes die Rolle des politischen Sozialismus. Einige der mitarbeitenden Forscher vertraten die Auffassung, dass die DDR-Heimerziehung keine Besonderheiten aufwies („Die DDR-Heimerziehung war der westdeutschen gleich“[10]) und die auch wenig Bedenken hatten, den DDR-offiziellen Verlautbarungen zu folgen.

Im Herbst 2011 gab das Bundesministerium des Innern als Ministerium, dem der Ostbeauftragte der Bundesregierung zugehörte, drei Expertisen in Auftrag. Es ging darum die rechtlichen und pädagogischen Rahmenbedingungen und Besonderheiten zu beschreiben sowie die psychologischen Auswirkungen des DDR-Heimaufenthaltes zu untersuchen. Das politische Ziel bestand darin, einerseits auch den DDR-Heimkindern den Zugang zu einem Fonds und damit zu finanziellen Mitteln zu ermöglichen und andererseits Bedingungen zu beschreiben, für die das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) zuständig ist. Deshalb lag ein Schwerpunkt der Expertise darauf, die politischen Einflussfaktoren der SED-Herrschaft zu benennen, um eine gewisse Orientierung der Unrechtsaufarbeitung zu erhalten.

Die Abfassungszeit war eng bemessen, denn der Fonds sollte am 01.06.2012 bereitstehen. Deshalb wurde bereits während der Abfassungszeit allen Beteiligten deutlich, dass sich Themenfelder auftaten, für die ein erheblicher Forschungsbedarf weiterbestehen würde, weil bis dato über bestimmte Bereiche der DDR-Heimpädagogik nichts bekannt war. Das betraf z.B. die Existenz konfessioneller Kinderheime.[11]

 

3)     Das gegenwärtige Projekt. „Vertiefende Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR“

Das im Dezember 2012 begonnene Projekt versucht, einen Teil dieser Themen “vertiefend” aufzugreifen. Das Hauptproblem allerdings, das muss vorweg betont werden, kann auch durch dieses Projekt nur ansatzweise gelöst werden: Die Heimerziehungssituation in den Normalheimen und die praktische und alltägliche Arbeitsweise der DDR-Jugendhilfe ist im bisherigen Aufarbeitungsprozess nur wenig berücksichtigt worden. Bisher standen die Umstände, die zum Heimerziehungsunrecht führten, im Zentrum. Dies war auch richtig und notwendig, geht es doch bei Fragen der strafrechtlichen Rehabilitierung und der Entschädigung durch Hilfen des Fonds um die ganz konkrete Verbesserung von Lebensbedingungen der Betroffenen. Diese Aufarbeitung muss auch in Zukunft vorangebracht werden, um u.a. den Verantwortlichen der Rehabilitierungskammern eine gesicherte rechtliche Grundlage für ihre Entscheidungen geben zu können.

Es darf aber nicht übersehen werden, dass es auch in der DDR eine Art „Normalität“ der Jugendhilfe gab. Sie war sicher nicht unabhängig vom politischen Einfluss, dennoch wird man ihr nicht gerecht, wenn man sie unter das generelle Verdikt des DDR-Unrechtes stellt. Hier ist in den kommenden Jahren eine Aufarbeitungsbemühung nötig, die vordergründig betrachtet vielleicht keine spektakulären Ergebnisse erwarten lässt, ohne die jedoch die Aufarbeitung der DDR-Heimerziehung einseitig bliebe.

Die bisherige Aufarbeitung war mit Recht an den Phänomenen orientiert, deren Unrechtscharakter deutlich war und legte das Augenmerk auf das „Heimsystem“, das in der DDR exemplarisch für die Arbeit der Jugendhilfe war: die Kategorisierung von „Erziehungsfällen“ und die institutionelle Separierung und soziale Isolierung der Kinder und Jugendlichen nach Alter (Geschwistertrennung), Geschlecht (keine koedukative Unterbringung), und „pädagogischem“ Befund (normal-erziehbar/schwererziehbar). Man sieht diesem Heimsystem an, dass es darauf orientiert war, die „pädagogischen“ Einflussmöglichkeiten zu konzentrieren, statt den Kindern die soziale Vielfalt der Lebenswirklichkeit anzubieten.

Der Charakter „totaler Institutionen“, vor dem bereits in den 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in der Soziologie gewarnt wurde, ist durch die „pädagogischen“ Konzepte des SED-Sozialismus forciert worden, statt dass ihm entgegengewirkt worden wäre.[12] Die Situation in den Normalheimen (ca. 75% aller Heimeinrichtungen) ist aber nicht so eindeutig beschreibbar. Während über die „Spezialheime“ (25 %) viel bekannt ist, gilt das für die Normalheime nicht. Insbesondere das Material, das aktengestützte Aussagen zulässt, muss erst noch gesichtet werden.

Im Folgenden sollen nun die Hauptaspekte des Forschungsprojektes stichpunktartig beschrieben werden.

(Aufarbeitung für das Lehrcurriculum an den Hochschulen.) Das Aufgreifen der Forschungsdesiderate soll nicht allein der wissenschaftlichen Aufarbeitung und der öffentlichen Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur und der Geschichte der DDR-Heimpädagogik dienen. Es soll zugleich einen Beitrag dazu leisten, dass die damit befassten Hochschulen und Ausbildungsstätten aus den Missständen der Vergangenheit  Lehren für die gegenwärtige Organisation der Heimerziehung und der Ausbildung der Heimerzieher/Innern und der im Umfeld tätigen SozialarbeiterInnen ziehen. Von betriebserlaubnisgebenden Behörden, von Trägern und Einrichtungen und von Jugend- und Sozialämtern wird dazu bereits ein Bedarf von Qualifikationsstandards artikuliert. Vor dem Hintergrund der Geschichte der Heimerziehung in Ost und West wäre es dringend erforderlich, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Aufarbeitung in die Ausbildungsgänge derjenigen einfließen zu lassen, die für das gelingende Leben von minderjährigen Schutzbefohlenen mitverantwortlich sein werden.

(Heimatlas DDR.) In den Anlauf- und Beratungsstellen artikuliert sich ein erheblicher Klärungsbedarf, der hervorgerufen wird durch das Fehlen von z.T. elementaren Informationen über die Heimsituation in der DDR. Dieser Aufgabe kommt das Forschungsprojekt entgegen, in dem es einen „Heimatlas – DDR“ erstellt, in dem an die 1000 Kinderheime der DDR identifizierbar werden und der sich als Beginn der Einbeziehung der Betroffenen an der Aufarbeitung versteht.

(Betroffenenbeteiligung und Ombudsperson.) Zudem ist für die Betroffenen nicht immer klar verständlich welche Möglichkeiten der Entschädigung bzw. Milderung ihrer Folgeschäden ihnen zugänglich sind und welche anderen Formen der persönlichen Beteiligung bei der Aufarbeitung für sie sinnvoll sind. Dieser Aspekt stellt eine Herausforderung vor allem dann dar, wenn die Betroffenenbeteiligung – wie in Berlin –nicht nur gewünscht, sondern politisch auch umgesetzt wird. Die Beteiligung der Betroffenen verhindert bequeme Lösungen, macht aus der Abstraktion von Leiden das persönliche Schicksal und verhindert eine zweite Entmündigung der Betroffenen. Die Herausforderung, die ein solcher Prozess darstellt, ist bisher kaum reflektiert und bedarf einer grundsätzlichen Überlegung, ob Rehabilitation, Wiedergutmachung, Ausgleich nicht allein eine Frage ethischer (und immer nur ungenügend realisierter) Gerechtigkeit ist, sondern darüber hinaus auch eine Haltung des „Ertragens“ (lat. tolerantia) nötig macht, die in den bisherigen Anforderungen an Sozialarbeit zu wenig thematisiert wird. (Stichwort: „advokatorische Ethik“). Das Forschungsvorhaben enthält einen eigenständigen Teil, der sich unter dem Stichwort der Bedeutung der Ombudsperson den genannten Fragen zuwendet. Es soll deshalb zum Beispiel überlegt werden, wer mit welchem Recht wen beteiligt und wer von den Beteiligten mit welchem Recht für wen sprechen darf. Mit diesen Problemen hat z.B. die Berliner Anlaufstelle beinahe täglich zu tun und es bedrückt alle, die sich für die Betroffenenbeteiligung stark machen, dass es hierfür keine Konzepte und routinierte Diskursverfahren gibt.

(Medizinische Versorgung.) Unter diesem Stichwort verbirgt sich eine Reihe von Themen. Sie reichen von der verwaltungstechnischen Frage, wie das Gesundheitswesen (Ministerium für Gesundheit) und das Volksbildungswesen (Ministerium für Volksbildung) im Bereich der Jugendhilfe zusammengearbeitet haben, wie sich der hygienische Zustand der stationären Einrichtungen gestaltete, welche Qualität die medizinische Versorgung der Heimkinder hatte, wie mit Schwangerschaften umgegangen wurde, welchen Vorgaben und Kontrollen sich die Medikamentengaben unterwerfen mussten, ob und wie abweichendes Verhalten pathologisiert und ggf. medikamentös „behandelt“ wurde, in welchem Maßstab in bestimmten Einrichtungen Psychopharmaka verwendet wurden.

(Die Ausbildung der Heimerzieher.) Ein weiteres Thema betrifft die Ausbildung der Erzieher die in Normalkinderheimen tätig waren. Wir wissen, dass die Fluktuation des Heimpersonals sehr groß war. Es bereitete zunehmend Mühe motiviertes Personal für die Heimerziehung zu finden. Das lag nicht allein daran, dass das Klima unter dem Personal der Heimeinrichtungen auch von Überforderung und fehlender Anerkennung geprägt war, sondern auch daran, dass die „pädagogische“ Ausbildung – wie alle Ausbildungen  in der DDR – politisch statt sachlich orientiert war: „Die Erziehung und Ausbildung der künftigen Heimerzieher in den Einrichtungen der Jugendhilfe dient dem Ziel, Persönlichkeiten heranzubilden, die der Arbeiterklasse, ihrer marxistisch-leninistischen Partei und dem sozialistischen Arbeiter- und Bauern-Staat treu ergeben sind und den Klassenauftrag zur kommunistischen Erziehung der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen mit hohem politischen und moralischen Verantwortungsbewußtsein schöpferisch erfüllen.“[13] Der Lehrstoff orientierte sich am Lehrstoff für Unterstufenlehrer und berechtigte auch zum Unterrichten. Ab 1973 gab es eine namentlich so genannte Heimerzieherausbildung, deren Inhalt sich jedoch nur wenig spezifisch auf die Probleme der Kinder in den Heimen ausrichtete.

(Jugendliche in Einrichtungen mit Arbeitszwang.) Obwohl in der DDR die Schulpflicht mit dem Recht auf Erwerb einer Ausbildung verbunden war, war dieser Weg vielen Heimkindern verschlossen. Die Umstände mancher Einrichtungen verunmöglichten den Abschluss der zehnklassigen Schule. Viele Jugendliche blieben ohne Berufsausbildung, bzw. wurden zu Teilfacharbeitern und Anlerntätigkeiten ausgebildet.[14] Die Gründe dieser zur späteren Diskriminierung und Stigmatisierung beitragenden Versäumnisse liegen manchmal auch darin, dass der unmittelbare Arbeitsertrag der Heimkinder für wichtiger erachtet wurde als die ihnen rechtmäßig zustehende Ausbildung. In welchem Umfang und in welcher Intensität dieser Arbeitszwang sich auswirkte, soll untersucht werden.

(Soziale Folgen des Heimaufenthaltes.) Unmittelbar an diese Problematik schließt sich die Frage nach den Folgen des Heimaufenthaltes für den beruflichen Weg der Heimkinder und damit ihrer sozialen Einbettung. Diese Thematik ist besonders wichtig, weil auch in der Gegenwart die sozialen Folgen von Jugendhilfemaßnahmen mit bedacht werden müssen.

(Rechtsfragen.) Zu den weiter zu klärenden Rechtsfragen gehört die Frage der Anwendbarkeit des sogenannten Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes (StRehaG). Der Fonds Heimerziehung ist ein politisches, kein juristisches Mittel, um das Leid der ehemaligen Heimkinder zu lindern. Es ist deshalb kein juristisches Mittel, weil eventuelle rechtlich relevante Tatsachen der 30jährigen Verjährungsfrist unterliegen.

Anders verhält es sich mit politischem Unrecht in der ehemaligen DDR. Wer aus politischen Gründen Heim-Unrecht erfahren hat, dem steht der Weg der rechtlichen Rehabilitierung offen. Es ist allerdings sehr schwer, eine klare Abgrenzung vorzunehmen. Zwar eröffnet der Aufenthalt in Torgau unmittelbar die Möglichkeit der strafrechtlichen Rehabilitierung, weil er als spezifisch politisches Unrecht anerkannt ist und deshalb nicht der Verjährungsfrist unterliegt. Aber die Umstände (Einweisungsgründe, Bestrafung, Elterntrennung) in vielen anderen Heimen machen es sehr schwer, politisches Unrecht von heimerzieherischen Versäumnissen oder Missständen zu unterscheiden.

(Säuglingsheime.) Die Säuglingsheime der DDR gehören eigentlich nicht in den Bereich der Jugendhilfe, weil sie nicht dem Ministerium für Volksbildung, sondern dem Ministerium für Gesundheit unterstanden. Dennoch überschneiden sich hier zwei Bereiche. Denn die Jugendhilfe hatte eine Zeitlang die Aufgabe für Kinder, deren Eltern arbeiten wollten und sollten, Säuglingsheimplätze zu finden und die Kinder dorthin einzuweisen.

Weil die ersten Jahre eines Menschen besondere Bedeutung für seine spätere Gesundheit haben und weil diese Jahre der eigenen Erinnerung nicht zugänglich sind, ist die Aufarbeitung der Umstände und Zustände in den Säuglingsheimen für die Betroffenen von besonderer Bedeutung. Viele wissen nicht, warum ihre „Heimkarriere“ im Säuglingsheim begann; sie wissen nichts von den Umständen ihrer Familie und suchen nach dem „Warum?“ ihrer Einweisung und nach allem, was ihnen eine gewisse Vorstellung verschaffen könnte, wie ihre früheste Kindheit verlaufen ist.

(Geheimdienst, Überwachung des Ministeriums für Staatssicherheit.) Es ist unwahrscheinlich, dass in anderen sozialistischen Ländern die Staatssicherheit in systematischer Weise Einfluss auf die Heimerziehung genommen hat. Dazu waren die Geheimdienste vermutlich allein wegen der geringen Mitarbeiterzahl kaum in der Lage und wegen der geringen Bedeutung des Gegenstandes auch wohl kaum motiviert. Anders in der DDR. Hier mischte sich die Stasi in die Kaderpolitik der Abteilungen der Jugendhilfe, bei Fluchtversuchen der Heimkinder und bei politischer Auffälligkeit der Eltern ein und machte selbst aus schutzlosen und zumeist harmlosen Kindern ein staatsicherheitsrelevantes Politikum.  Auch hier benötigen wir gründlichere Kenntnisse, um über Umfang und Einflusstiefe der geheimdienstlichen Tätigkeit zu belastbaren Aussagen zu gelangen.

(Internationaler Vergleich.) Schließlich soll versucht werden, den Boden für einen internationalen Vergleich zu präparieren. Denn immer deutlicher wird, dass die Phänomene der Heimerziehung in der zweiten Hälfte des 20sten Jahrhunderts trotz politisch sehr verschiedener Gegebenheiten Gemeinsamkeiten aufweisen. Die Heimerziehung war vermutlich in ganz Europa – wir wissen dies jedenfalls aus Deutschland, Irland, Frankreich, Rumänien, der Schweiz und Österreich – davon geprägt, dass institutionelles Versagen zu einer Missachtung der Menschenwürde von Kindern und Jugendlichen führte, die einen Verstoß gegen die Europäischen Konventionen der  Menschenrechte darstellt.

Auf der einen Seite ist es deshalb unabdingbar, die spezifischen politischen Gegebenheiten zu beschreiben. Aufarbeitung darf nicht abstrakt vorgehen. Die Heimkinder haben das Recht „ihre eigene“ Geschichte in der Rekonstruktion des Vergangenen zu erkennen. Die DDR-Heimerziehung weist eine Fülle von Besonderheiten auf, die nicht übergangen werden dürfen.[15] Insbesondere zählt dazu die politische Diktatur des SED-Sozialismus, die dafür steht, dass Verstöße gegen die  Menschenrechte von Schutzbefohlenen staatlich organisiert und unterstützt, geduldet und ermöglicht wurden.

Auf der anderen Seite legen es die Beispiele anderer europäischer Staaten nahe, dass sich anscheinend unabhängig von der politisch-staatlichen Verfasstheit ein repressiver Zug der Heimerziehung bemächtigen konnte. Die Verfasstheit von „anstaltsartigen“ Einrichtungen stellt eine derjenigen menschlichen Institutionen dar, die für repressionsartige Vorkommnisse anfällig sind. Sie ermöglichen den handelnden Subjekten, ihre individuelle Verantwortlichkeit hinter den Regelungen und Üblichkeiten der Betriebsführung unsichtbar zu machen und auf Verstöße gegen die Ordnung, Störfälle und Ärgerlichkeiten mit demjenigen Maß der Überreaktion und Übertreibung zu reagieren, die in den meisten Menschen latent bleiben wird, solange ihre persönliche Verantwortlichkeit institutionell unterstützt wird. Der Gegenstand einer solchen europäischen Heimgeschichtsforschung wäre demnach u.a. die Anfälligkeit bestimmter sozialstaatlicher Maßnahmen für einen sozialdisziplinierenden Zugriff auf Kinder und Jugendliche.

Es ist deshalb vonnöten, die Geschichte der DDR-Heimpädagogik – entgegen dem Anspruch ihrer Gründer, für die das Jahr 1945 die Illusion ermöglichte, mit der Geschichte brechen zu können – in die europäische Geschichte einzubetten.

(Abschluss.) Im Rahmen des vorgestellten Forschungsprojektes wird an der Ev. Hochschule für Sozialarbeit im Oktober 2013 eine Fachtagung durchgeführt. Anschließend werden die Aufsätze veröffentlicht und wir hoffen damit einen Beitrag leisten zu können, dass die Ergebnisse der Aufarbeitung für die Verwertung in den Lehrinhalten der betr. Hochschulen bereitstehen.

 

Literatur

–          Autorenkollektiv, (1984) Heimerziehung Berlin.

–          Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung (Hg.) (2011), Heimerziehung in Berlin. West 1945-1975. Ost 1945-1989. Annäherung an ein verdrängtes Kapitel Berliner Geschichte.

–          Deutscher Bundestag (Hg.) (1995), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, 9 Bd. In 19 Teilbden., Frankf./M.

–          Dreier, A./Laudien, K. (2013), Einführung. Heimerziehung der DDR. Schwerin (Hg. Von den Landesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehem. DDR).

–          Kappeler, M. (2007), Ein Hohes Maß an Übereinstimmung – Heimerziehung in Deutschland „Ost“ und Deutschland „West“, in: Jugendhilfe, 45.jg., Heft 6/2007.

–          Krause, H.U. (2004), Fazit einer Utopie. Heimerziehung in der DDR, Freiburg.

–          Krebs, B. (1965), Aufgaben und Gestaltung des Heimaufenthaltes im Prozess der Umerziehung, in: Jugendhilfe 3/1965, H. 4, S. 166-177

–          Laudien, K./Sachse, Chr., (2011), Politische, rechtliche und pädagogische Rahmenbedingungen der Heimerziehung in Ost-Berlin 1945-1989.

–          Laudien, K./Sachse, Chr. (2012), Erziehungsvorstellungen in der Heimerziehung der DDR, in: Aufarbeitung Heimerziehung in der DDR. Expertisen, Hg. Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer, Berlin.

–          Mannschatz, E. (1994), Jugendhilfe als DDR-Nachlass, Münster.

–          Ministerrat der DDR. Ministerium für Volksbildung (1979), Studienplan für die Ausbildung von Heimerziehern an Instituten für Lehrerbildung, Berlin (zweite Auflage Berlin 1981).

–          Olk, Th./Bertram, K., 1994, Jugendhilfe in Ostdeutschland, in: Krüger, H.-H./Marotzki, W., (Hg.), Pädagogik und Erziehungsalltag in der DDR (Stud. Zur Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung 2), Opladen.

–          Sachse, Chr. (2011) Der letzte Schliff. Jugendhilfe/Heimerziehung in der DDR als Instrument der Disziplinierung (1945-1990), Hg. Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Schwerin.

–          Schütze, Ot. (1964), Zu einigen Problemen sozialer Fehlentwicklung und der Umerziehung, in: Jugendhilfe 3/1964, S. 83-87

–          Wensierski, P., 2006, Schläge im Namen des Herrn, München.

–          Zimmermann, V., 2000, „Den neuen Menschen schaffen“. Die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR (1945-1990), (Diss.) Köln, Weimar, Wien.



[1] Der Autor ist Lehrstuhlinhaber an der Ev. Hochschule Berlin und Vorstand des BVVT (Bundesverband Vormundschaftstag e.V.). Er hat gemeinsam mit Christian Sachse für den Berliner Bericht zur Heimerziehung den Teil über Ost-Berlin (Laudien, K./Sachse, Chr. 2011), die zur Einrichtung des Fonds Heimerziehung von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Expertise „Erziehungsvorstellungen in der Heimerziehung der DDR“ (Laudien, K./Sachse, Chr. 2012) und gemeinsam mit Anke Dreier die „Einführung. Heimerziehung der DDR“ (Dreier, A./Laudien, K. 2013) verfasst und ist Autor weiterer Veröffentlichungen zu Thema Heimerziehung und Vormundschaft, Siehe www.quidditas.de.

[2] Siehe: www.ddr-heimerziehung.de

[3] Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Kampf um den umfassenden Aufbau des Sozialismus, in der DDR (4. Mai 1964), Abs. I, in: GBl. DDR I, Nr. 4, S. 75 ff.

[4] Schütze, Ot. (1964), S. 84, Krebs, B. (1965), S. 166.

[5] Mannschatz, E. (1994), S. 32.

[6] Autorenkollektiv (1984), S. 44.

[7] Erste Durchführungsbestimmung zur Verordnung Volksbildung – Jugendwerkhöfe – 1989 in: BArch DR 2/60997 (Bundesarchiv).

[8] Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft (2011).

[9] Laudien, K./ Sachse, Chr. (2011).

[10] Kappeler, M. (2007).

[11] Dreier, A./Laudien, K. (2013), S. 126-131.

[12] Laudien, K./Sachse, Chr.  (2012), S. 137-139, Dreier, A./Laudien, K. (2013),  89-92.

[13] Ministerrat der DDR. Ministerium für Volksbildung (1979),  S. 5.

[14] Dreier, A./Laudien K. (2013), S. 86-87 u.96-98.

[15] Dreier, A./Laudien, K. (2013), S. 66-73.

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