HEZ: Interview mit Dr.Herbert Scherer, Geschäftsführer der Berliner Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder

HEZ: Die Berliner Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder (ABeH) ist bundesweit die einzige, die bei einem freien Träger angesiedelt ist. Wie ist es dazu gekommen? Was hat Ihren Träger, die „Gesellschaft für sozial-kulturelle Arbeit“, dazu bewogen, diese Aufgabe zu übernehmen, die ja auch bedeutete, den teilweise kritisch gesehenen Fonds Heimerziehung umzusetzen?

Am Anfang stand nicht die Überlegung, diese Anlauf- und Beratungsstelle zu machen, sondern am Anfang stand der Wunsch einer selbst organisierten Gruppe ehemaliger Heimkinder (der damaligen „Berliner Regionalgruppe ehemaliger Heimkinder“) einen zuwendungsfähigen formellen Träger für einen Treffpunkt zu finden, dessen Finanzierung aus Mitteln des PS-Sparens man gerade gegenüber dem Senat durchgesetzt hatte. Um mehr ging es anfangs nicht. Die Regionalgruppe suchte nach einem Träger, der in seiner Vergangenheit nichts mit Heimerziehung zu tun gehabt haben sollte, also in dieser Hinsicht als „unverdächtig“ gelten konnte. Darüber hinaus sollte er nach Möglichkeit auch nicht einem der kirchlichen Wohlfahrtsverbände wie Diakonie oder Caritas in irgendeiner Weise verpflichtet sein. Eine Sympathie für Selbstorganisation und Selbsthilfeaktivitäten war auch erwünscht. Bedingungen, die der schließlich gefundene Träger, der Verband für sozial-kulturelle Arbeit (Dachverband der Nachbarschaftshäuser und Bürgerzentren), alle erfüllte. Die Mitte 2011 begonnene Unterstützung beim Betrieb des Treffpunktes der „Ehemaligen“ führte zu einer guten Zusammenarbeit und gegenseitigem Vertrauen. Als es dann um den Betrieb einer Anlauf- und Beratungsstelle in freier Trägerschaft ging, war es naheliegend, dass sich der Verband mit seiner Tochtergesellschaft (GskA) mit Unterstützung der Regionalgruppe an der entsprechenden Ausschreibung beteiligte.

HEZ: Sie sind als Träger mit viel Akzeptanz bei den „aktiven Ehemaligen“ gestartet. Haben Sie für den Betrieb der Anlauf- und Beratungsstelle ein eigenes Konzept erstellt?

Der Träger hat sich auf eine Ausschreibung beworben, die schon konzeptionelle Vorgaben enthielt, die sich stark auf Rahmenbedingungen bezog, die nicht eigenständig entwickelt worden waren, sondern von der bundesweiten Fondslösung vorgegeben waren. Es ging und geht seitdem immer wieder um die Frage, wie weit eigene Ansprüche unter diesen Rahmenbedingungen umsetzbar sind, wie weit man sich auf die entsprechenden Vorgaben einlassen darf. Die Konzeption der Arbeit stellt deswegen bereits einen gewissen Kompromiss zwischen den trägerspezifischen Ansprüchen und den von außen gesetzten Bedingungen dar.

HEZ: In Berlin wurden diverse Workshops gemeinsam von Jugendämtern, Landesjugendamt und Betroffenen, also ehemaligen Heimkindern, durchgeführt. Bei den Workshops wurde auch besprochen, was in der ABeH passieren sollte. Haben Sie geahnt, was da auf Sie zukommen würde?

Nein, wir haben das nicht geahnt. Nicht nur wir haben das nicht geahnt, sondern auch sonst waren alle ziemlich ahnungslos. Kaum einer hat mit dem gerechnet, was dann wirklich passiert ist. Das Hauptproblem war, dass man gedacht hat, dass es einige besonders belastete Heimkinder geben würde, die sich hier um entschädigungsähnliche Leistungen bemühen würden. Der Kreis schien überschaubar. Unter anderem deswegen, weil ja die organisierten Gruppen, also die selbst organisierten Gruppen von vorher, in ihrem gesamten Wirkungskreis z.B. in Berlin nicht mehr als 30 oder 40 Leute erfasst haben. Der Kreis der möglichen Anspruchsteller wurde für Berlin auf vielleicht 200 oder 300 Personen geschätzt. Das war einer der Punkte, wo die Prognose sich als falsch herausgestellt hat.

HEZ: Gab es noch weitere Punkte?

Der Fonds ist mit ziemlich großen Versprechungen auf unbürokratisches Handeln gestartet, auch in den generellen Richtlinien, die darauf ausgerichtet waren, einem überschaubaren Kreis von Menschen eine wirklich umfassende Hilfe zu geben. Es ging um psycho-soziale Beratung und Betreuung, um Unterstützung von Selbstorganisation, beruflicher Rehabilitation usw.

Was sich dann herausgestellt hat, ist, dass das Alltagsgeschäft zur Abwicklung des Fonds, der dann doch mit jeder Menge bürokratischer Regelungen aufwartete, die gesamten Energien schon fressen würden, zudem war das zweite Problem die große Anzahl der Antragsteller.

HEZ: Haben die engagierten ehemaligen Heimkinder den Prozess der Entwicklung der ABeH mitgetragen?

Es gab und gibt da keine einhellige Meinung unter den Ehemaligen. Im Gegenteil: die Fonds-Lösung hat zu einer ganzen Reihe von Spaltungen innerhalb der Bewegung der Ehemaligen geführt. Immer wieder gab es fundamentalistische Positionen, die besagten, dass das, was hier angeboten wird, nicht akzeptabel sei, weil es sich nicht um die jahrelang geforderte „angemessene Entschädigung“ handele und dass man sich deshalb nicht darauf einlassen dürfe. Dann gab es die Haltung von anderen, die sagten, dass dies zwar nicht das sei, was sie eigentlich wollten, aber es sei immerhin ein erster Schritt in die richtige Richtung, weshalb sie sogar bereit waren, sich an der Umsetzung zu beteiligen. Diese Auseinandersetzungen wurden allerdings fast nur von den „organisierten Ehemaligen“ geführt, Für die anderen „Ehemaligen“ ist das Ganze viel weniger problematisch gewesen. Die hatten nicht auf etwas anderes hingearbeitet und sind deswegen auch nicht enttäuscht worden, sondern sie haben auf gar nichts hingearbeitet und haben plötzlich etwas bekommen, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Das gilt bis heute: die Nicht-Organisierten sind diejenigen, die am unkompliziertesten die Leistungen, die der Fonds bietet, akzeptieren können. Über diese und ähnliche Fragen gab es heftige Auseinandersetzungen bei den „Ehemaligen“. Sie haben z.B. dazu geführt, dass bis heute aus der ehemals gemeinsamen „Berliner Regionalgruppe ehemaliger Heimkinder“ vier Gruppierungen hervorgegangen sind, die alle für sich beanspruchen, die „eigentlichen“ Interessenvertreter der Betroffenen zu sein.

HEZ: Können Sie ein paar Daten und Fakten nennen?

Wir haben derzeit in unserer Datenbank 2.450 Menschen, die Hilfe aus dem Fonds haben wollen. Dem steht gegenüber ein Team von sechs Leuten, die sich vier Stellen teilen. Für jeden einzelnen „Fall“ haben wir ein Zeitkontingent von 7 ½ Stunden zur Verfügung.

Von den 2.450 erfassten Menschen haben wir mit 900 Menschen schon ein Beratungsgespräch gehabt. Weitere 1.000 sind für Beratungstermine bis in den Februar 2015 hinein vorgemerkt worden. 300 stehen auf einer Warteliste. Von 250 haben wir bisher nur die Kontaktdaten aufgenommen und noch keine weiteren Verabredungen getroffen.

Wir haben bisher Vereinbarungen über insgesamt 7,5 Mio. Euro abgeschlossen. Davon entfallen 3,1 Mio. (1,2 Mio. West, 1,9 Mio. Ost) auf Rentenersatzleistungen (betr. eigentlich sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten, für die keine Einzahlungen in die Sozialversicherung geleistet wurden), 4,4 Mio (1,5 Mio. West, 2,9 Mio. Ost) auf sog. Materielle Leistungen (entschädigungsähnliche Sachleistungen, die Folgeschäden aus der Heimerziehung lindern sollen).

HEZ: Einer der ganz großen Kritikpunkte an dem Fonds ist, dass er keine „echte Entschädigung“ gewährt für erlebtes Leid. Wo gerät der Fonds, wie er jetzt angelegt ist, an seine Grenzen?

Bei sehr vielen Menschen, die es geschafft haben, mit dem Leben klarzukommen, ist das Hauptproblem, dass die Heimzeit auch tief in ihnen selbst vergraben ist. Und die Leistungen, die aus dem Fonds gegeben werden können, sind in solchen Fällen ganz oft kein Äquivalent für das, was an Retraumatisierungen stattfindet, wenn man sich wieder neu und relativ intensiv mit dieser Zeit in seinem Leben beschäftigen muss, denn über diese Sachleistungslogik sollen ja die Negativerfahrungen aus der Heimerziehung erst einmal dargelegt werden, damit die Sachleistungen dazu in einem kompensierenden Zusammenhang stehen.

HEZ: Nach Ihrer Auffassung steht also einer verhältnismäßig geringen Leistung eine hohe Gefahr der Retraumatisierung entgegen. Heißt das, manchem würde es wesentlich besser gehen, wenn er oder wenn sie erst gar keine Leistungen aus dem Fonds beantragt?

Manche Menschen machen das so und entscheiden sich, keine Fondsleistungen in Anspruch zu nehmen, weil sie nicht noch einmal erinnert werden wollen.

HEZ: Ist denn so die ABeH überhaupt in der Lage, diese Retraumatisierungen aufzufangen, wenn sie innerhalb der Beratungen auftreten? – Macht es einen Unterschied, ob eine Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder bei einem freien oder Öffentlichen Träger angesiedelt ist?

Die Retraumatisierung findet nicht nur in der Beratung selber statt, sondern sie wird schon dadurch aktiviert, dass das Thema Heimerziehung insgesamt in der Öffentlichkeit durch den Fonds und alles, was darum herum entstanden ist, zum Gegenstand der Berichterstattung wird.

Das heißt, die Berater sind schon professionell genug, um in ihrem eigenen Handeln sehr sensibel mit den entsprechenden Fragen so umzugehen, dass Retraumatisierungen nach Möglichkeit vermieden werden

Die Tatsache, dass unsere Beratungsstelle bei einem freien Träger ist, wird von Menschen, die von Ämtern in ihrem Leben unheimlich viel Negatives erfahren haben, schon einmal als Fortschritt empfunden. Aber auch da gibt es Unterschiede. Manche sind es gewohnt, mit Ämtern umzugehen. Da ist es dann auch egal, ob das noch ein Amt mehr oder weniger ist. Ich glaube aber trotzdem, dass die Chance, sich auf die Leute einzustellen, bei einem freien Träger größer ist. Wir müssen nicht behördlich agieren, sondern können solidarischer und empathischer sein, ohne unsere Rolle zu verlassen.

HEZ: Sie haben Retraumatisierung als eine problematische Nebenwirkung des Fonds genannt. Gibt es Menschen, die Ansprüche an den Fonds hätten, aber aufgrund der speziellen Regelungen des Fonds diese nicht erfüllt bekommen können?

Der Fonds schafft in seinen Regularien neue Ungerechtigkeiten, das kann man schon sagen. Insbesondere gilt das für ehemalige Heimkinder aus dem Osten, wenn sie in Jugendwerkhöfen gearbeitet haben. Das ist ein klassischer Fall. Man kann sagen, ein sehr großer Teil von den Menschen, die eine DDR-Heimkarriere hatten, die in Jugendwerkhöfen geendet ist, sind im weiteren Leben aus vielen Gründen nicht sehr erfolgreich gewesen. Die sind sehr früh schon auf ein Abstellgleis geschoben worden. Aber ausgerechnet an einem Punkt haben die Jugendwerkhöfe quasi korrekt gehandelt, sie haben nämlich – zwar in einem ganz geringen Umfang, aber immerhin – Beiträge in das DDR-Sozialversicherungssystem bezahlt. Und in den Jugendwerkhöfen mussten die Jugendlichen am meisten arbeiten, es ging ja auch um Arbeitserziehung. Alle diese Jugendlichen, die in den Jugendwerkhöfen waren und für die solche Beiträge bezahlt wurden, sind jetzt von den Rentenersatzleistungen ausgeschlossen – im Gegensatz zu Jugendlichen, die in einem Normalheim waren, wo sie nur in einem überschaubaren Umfang arbeiten mussten, aber jetzt Rentenersatzleistungen bekommen, weil dort Arbeit anders gewertet wurde. Im Heim wurde die Arbeit als Teil der Pädagogik gesehen, während es in den Jugendwerkhöfen tatsächlich vor allem um Zwangsarbeit oder mindestens zwangsarbeitsähnliche Formen der Arbeit ging, zum Beispiel auf den Feldern oder in der Schwerindustrie, Hilfsarbeit.

HEZ: Demnach sind genau diejenigen benachteiligt, die die schlimmste Form von Heimerziehung in der DDR erlebt haben. Wie ist das in der früheren Bundesrepublik mit Kindern gewesen, die arbeiten mussten, aber aus Altersgründen nicht sozialversicherungspflichtig sein konnten?

Das ist genauso. Kinderarbeit wird nicht über diesen Rentenausgleich in irgendeiner Form kompensiert, weil man davon ausgeht, Kinderarbeit ist verboten, also hätten Kinder nie sozialversicherungspflichtig arbeiten können. Insofern können Rentenersatzleistungen nur für diejenigen gewährt werden, die als Jugendliche ab 14 Jahren diese Art von Arbeit leisten mussten. Da kann man genauso sagen: Kinder, die den ganzen Tag irgendwo arbeiten mussten, haben die größten Schädigungen erlitten, sie hatten es am schwersten, aber sie bekommen dafür nichts.

Es gibt eine andere benachteiligte Gruppe, das sind diejenigen, die vor 1949 im Heim waren. Das sind nicht so sehr viele. Das hat natürlich auch etwas mit dem Alter zu tun. Diese Gruppe geht gänzlich leer aus, auch bei den Sachleistungen, denn im Westen wie im Osten gilt als Startpunkt die jeweilige Staatsgründung, der BRD bzw. der DDR.

HEZ: Gibt es die Möglichkeit der Nachbesserung des Fonds? Sind schon Nachbesserungen erfolgt?

Der Fonds West läuft seit 1 ¾ Jahren, seit 1 ¼ Jahren gibt es den Fonds Ost. Im Verfahren hat es ein paar wesentliche Nachbesserungen gegeben. Es gab auch einige Verfahrens-veränderungen.

Die wichtigste Veränderung war die Abschaffung der sogenannten Verzichtserklärung. Am Anfang bestand im Fonds West die Notwendigkeit für jeden, der Leistungen aus dem Fonds entgegennehmen wollte, vorher zu erklären, dass er damit auf jeden weiteren Schadenersatz gegenüber denjenigen, die in den Fonds eingezahlt haben, verzichten würde, also gegenüber den Kirchen, dem Bund und den Ländern. Diese Verzichtserklärung wurde wegen vieler Proteste abgeschafft.

Ansonsten gab es ein paar Verfahrensvereinfachungen und ein paar Verfahrensverschärfungen. Insbesondere wurde der bürokratische Überbau verstärkt, sodass heute für viele zwar die Verfahren vereinfacht sind, aber trotz alledem erhebliche Bauchschmerzen wegen der Bürokratie, die damit verbunden ist, entstehen.

HEZ: Sind die Anlauf- und Beratungsstellen nur Ausführende einer zentralen Regelung? Oder gibt es Spezifika in den einzelnen Bundesländern? Haben Sie die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen?

Wir haben in Berlin ein paar Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, weil wir bestimmte Verfahren selbst entwickeln. Wir haben hier in Berlin nämlich noch eine Besonderheit: wir bewirtschaften die Sachmittelausgaben selbst vor Ort. Die anderen Anlaufstellen lassen das über das BAFzA (Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben) erledigen. Wir mussten deswegen für den Finanzablauf einige berlinspezifische eigene Regelungen entwickeln.

HEZ: Wieso zahlen Sie die Sachleistungen selbst aus und die anderen nicht?

Im Fonds war vorgesehen, dass alle Anlauf- und Beratungsstellen die Sachleistungsabwicklung in die eigenen Hände nehmen. In allen anderen Bundesländern handelt es sich um Behörden und sie wollten dafür keine Kasse einrichten, weil das rechtlich schwierig gewesen wäre. Nur in Berlin, wo man einem freien Träger, der auch ein eigenes Bankkonto führen kann, den Auftrag gegeben hat, konnte man es dann so machen, wie es eigentlich bei allen hätte sein sollen.

In dieser Hinsicht hat Berlin also jetzt einen Sonderstatus, weil viele Dinge, die jetzt für alle geregelt werden, nicht für Berlin gelten können, weil die Verfahrensweisen anders sein müssen, aber auch anders sein können.

HEZ: Aber wie sieht es bei grundsätzlichen Fragen aus, die nicht nur die Abwicklung und Verfahrensabläufe betreffen?

Der Fonds hat einen Lenkungsausschuss. Der Lenkungsausschuss besteht aus Vertretern des Bundes, der Länder und der Kirchen. In dem Lenkungsausschuss sitzt auch ein Ombudsmann, jemand, der den Interessen der Heimkinder verpflichtet ist. Er hat zwar kein Stimmrecht, aber ein Rede- und Mitwirkungsrecht.

Einfluss nehmen können wir über die Ländervertreter, weil wir eine beauftragte Stelle des Landes Berlin sind und die Länder haben zwei Delegierte im Lenkungsausschuss. Diese Ländervertreter können auch aus dem Land Berlin angesprochen werden, um die Position des Landes Berlin innerhalb dieses Gremiums einzubringen. Das hat auch schon zu verschiedenen Verbesserungen geführt, weil Vorschläge, die wir einspeisen konnten, einige Regelveränderungen bewirkt haben.

Ein zweiter Weg der Einflussnahme geht über den Ombudsmann, den wir mit Informationen versorgen. Der Ombudsmann ist auch Mitglied des Berliner Fachbeirates.

Der Berliner Fachbeirat ist ein Beirat, in dem neben Fachleuten aus dem Sozialen und aus der Jugendhilfe auch mehrere Vertreter der betroffenen ehemaligen Heimkinder sitzen. Der Fachbeirat berät den Senat bezüglich der Berliner Anlaufstelle. Das ist ein Gremium, in dem Probleme, die in der Abwicklung auftreten, ausführlich diskutiert werden können. Dort kommen auch Missstände, die generell vorhanden sind, zur Sprache, damit sie dann über den Ombudsmann oder die Ländervertreter in den Lenkungsausschuss eingebracht werden.

HEZ: Ein Schwerpunkt der Arbeit der ABeH sollte die Unterstützung der Selbstorganisation der ehemaligen Heimkinder sein. Konnte der trotz der Zersplitterung der Betroffenen in mehrere Gruppen umgesetzt werden?

Diejenigen von den Betroffenen, die sich mehr oder weniger mit dem Geschehen arrangiert haben und den Fonds als einen Schritt zu ihrer Gesamtrehabilitation sehen, nutzen die Anlauf- und Beratungsstelle als Treffpunkt und für selbst organisierte Aktivitäten.

Wir stellen Räume und Arbeitsmöglichkeiten dafür zur Verfügung. So haben sich eine Theater- und eine Malgruppe gebildet. Es gibt auch einen Kulturausschuss, der schon einige öffentliche Veranstaltungen (Lesungen, Ausstellungen, Filmvorführungen) vorbereitet und durchgeführt hat.

Darüber hinaus haben wir einen Kreis von Ehemaligen, die heute als Ehrenamtliche in der Information für andere ehemalige Heimkinder mitwirken und dafür eine kleine Aufwandsentschädigung bekommen. Sie gehören zu dem erweiterten Team der Anlauf- und Beratungsstelle.

HEZ: Können Sie Beispiele nennen, wo die Unterstützung aus dem Fonds besonders sinnvoll war?

Es gibt ein Standard für gelungene Inanspruchnahme der Sachleistungen aus dem Fonds und das ist immer dann gewesen, wenn es in der Beratung möglich war, bei den Menschen Wünsche zu entdecken, die ihnen selbst nicht bewusst waren oder deren Erfüllung sie sich überhaupt nicht vorstellen konnten.

Durch Mund zu Mund-Propaganda wissen eigentlich alle Leute, die betroffen sind, mehr oder weniger was sie aus diesem Fonds bekommen können. In der Regel kommen sie auch schon mit fertigen Wunschlisten. Da steht drauf: eine neue Wohnungsausstattung, ein Gebrauchtwagen, ein Kühlschrank, eine Sommerreise, eine Erholungsreise, neue Kleidung, also das sind die Standardfälle.

Oftmals gibt es Wünsche, die nicht aus dem Fonds bestritten werden können, zum Beispiel die Tilgung von Schulden. Das ist absolut ausgeschlossen, weil es sich dann um eine Geldleistung handeln würde. Der Fonds möchte aber nur Sachleistungen geben, die einen Hilfecharakter haben sollen. Im Idealfall würde der aus der Heimerziehung mitgebrachte „Schaden“ durch diese Sachleistung beseitigt, mindestens aber gelindert. Zum Beispiel wird jemandem eine Therapie finanziert (auch Dienstleistungen können als Sachleistung anerkannt werden), an deren Ende wird er „geheilt entlassen“. Es ist ein einfaches, der Wirklichkeit nicht unbedingt entsprechendes Denkmuster, was dem Ganzen zu Grunde liegt.

Dann gibt es eben Menschen, die eine Reihe von Wünschen haben, die meistens mit ihrer schwierigen materiellen Lage zu tun haben. Wenn sie kommen, wird das Ganze zu einem relativ geschäftsmäßigen Umgang miteinander. Die Anlauf- und Beratungsstelle muss es dann schaffen, aus den vorhandenen Wünschen die Heimerziehungsproblematik abzuleiten oder umgekehrt, also es so darzustellen, als sei die Heimerziehungsproblematik eine (unmittelbare) Ursache für die entstehenden Wünsche. Wenn jemand sagt, dass er eine neue Waschmaschine braucht, weil die alte kaputt ist, dann muss also diese Waschmaschine in irgendeiner Form zur Heimerziehung in Bezug gesetzt werden. Das sind aus meiner Sicht die weniger gelungenen Prozesse, die aber inzwischen dominieren.

Die gelungensten Prozesse sind die, wo es im Beratungsgespräch möglich war, verborgene Wünsche herauszufinden, die manchmal wirklich etwas mit traumatischen Vorerfahrungen zu tun haben.

Drei Beispiele:

  • Da ist das ehemalige Heimkind, heute im Rentenalter, der heute noch voller Schmerz und Empörung von dem Vorfall berichtet, dass er eine Nonne im Heim „blöde Kuh“ genannt hatte und deswegen zur Strafe nicht an einem Schiffsausflug auf dem Rhein teilnehmen durfte, sondern Kartoffeln schälen musste. Ihm konnte aus Fondsmitteln eine einwöchige Flusskreuzfahrt finanziert werden.
  • Da ist der Frührentner, der ein Märchen geschrieben hat, in dem er auch einige frühkindlichen Traumata verarbeitet hat. Kein Verlag war bereit gewesen, das Experiment zu wagen und das Buch zu veröffentlichen. Im Selbstverlag konnte das Buch erscheinen, über einen Internetshop vertrieben werden und tatsächlich Leser in aller Welt erreichen. Die Kosten hat der Fonds übernommen.
  • Da sind die vier Geschwister, die alle gleichzeitig ins Heim gekommen waren und dann auseinander gerissen wurden, obwohl sie sehr aneinander gehangen haben. Heute in alle Welt (bis nach Südamerika) verstreut und nicht sehr begütert, hatten sie sich schon mit dem Gedanken abgefunden, wohl nie mehr von Angesicht zu Angesicht sehen zu können. Der Fonds hat es ihnen ermöglicht, zusammen zu kommen und eine gemeinsame wunderschöne Urlaubswoche an der Ostsee miteinander zu verbringen.

Diesen Geschichten ist gemeinsam, dass sich Menschen etwas gönnen konnten, das sie sich nicht zu träumen gewagt hätten. Mehrere Betroffene haben das so beschrieben: „Endlich entsteht aus diesen schlimmen Erlebnissen auch einmal etwas Gutes“.

HEZ: Engagieren sich die ehemaligen Heimkinder, mit denen Sie zu tun haben, auch für die Heimkinder von heute?

Ja, das kann man so sagen. Also es gibt eine durchgängig sehr große Empörung darüber, wie auch heute noch in geschlossener Heimerziehung (möglicherweise) gehandelt wird.

Es gab ja den Skandal um die Haasenburg. Das ist sehr, sehr aufmerksam wahrgenommen worden und es gab auch Wünsche, sich da irgendwie aktiv einzuschalten und gegen das zu protestieren, was da möglicherweise passiert. Im Fachbeirat wurde der Beschluss gefasst, die Jugendämter aufzufordern, keine Kinder und Jugendlichen mehr in dieser geschlossenen Einrichtung unterzubringen.

HEZ: Gibt es auch ein Engagement zum Beispiel bei Studenten/innen oder bei heutigen Fachkräften in der Heimerziehung?

Es gibt Ehemalige, die heute als Zeitzeugen über die Heimerziehung in den 50er/60er Jahren bzw. über die Heimerziehung in der DDR berichten und auch an die Hochschulen oder Fachschulen bzw. Berufsfachschulen gehen, um den künftigen Erziehern oder Sozialarbeitern und Sozialpädagogen etwas über ihre Erfahrungen in der Heimerziehung mit der Schwarzen Pädagogik zu erzählen.

HEZ: Welche Resonanz haben solche Zeitzeugen-Auftritte? Wie sind die Reaktionen?

In der Regel führen sie bei den angehenden Pädagog_innen zu einer großen Betroffenheit und einem großen Interesse. In der Regel findet dann vor den Betroffenen die Auseinandersetzung darüber, was Heimerziehung sein kann, nicht statt, aber später. Viele haben natürlich auch Erfahrungen mit der Heimerziehung heute und haben ein Problem damit, dass der Begriff Heimerziehung jetzt wieder so in Verruf gerät, also dass alles schlecht gemacht wird, was im Heim passiert.

HEZ: Halten Sie es für ausgeschlossen, dass es heute in der veränderten Heimerziehung auch Tendenzen gibt, die neue Traumatisierungen von Kindern hervorbringen?

In der Regel ist die Heimunterbringung selber schon mal grundsätzlich eine traumatisierende Erfahrung, also das Herausgerissenwerden aus einem problematischen Lebensumfeld. Die Kinder sind es ja gewohnt, dass sie dort leben. Es ist ihre Welt. Und es gibt die Sichtweise Dritter, die der Meinung sind, dass das für sie nicht gut ist, weshalb sie die aus etwas herausnehmen, was die Kinder aber kennen und worin sie sich auskennen. Die Kinder werden an eine andere Stelle verpflanzt.

Es gibt sozusagen Dinge, die in jeder Heimerziehung schon als Problem enthalten sind,  bzw. in jeder Fremdunterbringung – wie der Name schon sagt – ein Problem sind. Die Frage ist, wie weit die Einrichtungen in der Lage sind, die dadurch entstehende Problematik aufzufangen, durch menschliche Zuwendung und ein gutes Verhalten. Auch da gibt es Grenzen, die die Institutionen gar nicht überwinden können.

Man kann vermuten, dass der größte Teil von dem, was damals den Kindern angetan wurde, nicht aus bösem Willen geschah, sondern aus Nachlässigkeit, aus einer Institutionslogik heraus, teilweise auch aus einer ideologischen Position des Erziehungspersonals. Sowohl im Osten wie im Westen übrigens. Die Erzieher, die sich nicht auf die Kinder und Jugendlichen in ihrer besonderen Situation eingelassen haben, sondern die sie auf ein bestimmtes Ziel hin ausrichten wollten, weil sie davon ausgingen, genau zu wissen, was für die Betroffenen das Beste wäre, waren die schlimmsten, weil sie den Willen der Kinder und Jugendlichen brechen wollten und sich dabei völlig im Recht sahen.

HEZ: Wie ist in Ihrer Beratung das Verhältnis ehemaliger Heimkinder, die sagen, dass sie aus so problematischen Verhältnissen in die Heimerziehung gekommen sind, dass die Heimerziehung sie gerettet hat, zu denen, die auch im Nachhinein noch sagen, dass trotz problematischer Familienverhältnisse dieser Schritt für sie der Einstieg in ein schwieriges und belastetes Leben war?

Ja, es gibt auch diejenigen, die sagen, dass die Heimerziehung sie gerettet hat. Ich würde sagen, das sind nicht mehr als 5%. Von denen, die ihre Lebensgeschichte erzählen, sind es wiederum vielleicht 60%, die so schlimme familiäre und sonstige Umstände schildern, dass sie verstehen konnten, weshalb irgendjemand der Meinung war, dass sie ins Heim mussten.

In der Regel wird aber dieser Vergleich nicht gemacht, sondern es wird die Situation im Heim gesondert beschrieben und nicht mit der Herkunftsfamilie verglichen in dem Sinne, ob etwas besser oder schlechter war. Es wird berichtet, dass schlimm war, was vorher im familiären Umfeld passierte, und es wird berichtet, dass schlimm war, was dann im Heim passierte, also das Schlimme an beiden Orten.

Diese Kinder und Jugendlichen sind ständig vom Regen in die Traufe und von der Traufe in den Regen und vom Regen in die Traufe geraten, also von einer Station nach der anderen. Da kommen ja noch Pflegefamilien dazu, in denen schlimme Sachen passiert sind, usw., also das ist eine Verkettung in einer Unglücksgeschichte, in der die Heimerziehung eine wichtige Episode darstellt.

HEZ: Sie haben es in der Beratung mit sehr unterschiedlichen Menschen zu tun, vom Alter her, Menschen, die aus unterschiedlichen Systemen kommen, auch Systemen der Heimerziehung. Sie haben ihr Leben später auch unterschiedlich gemeistert. Können Sie Rückschlüsse ziehen, welche Rahmenbedingungen der Heimerziehung dazu führten, dass Menschen später ihr Leben besser in den Griff bekommen haben?

Wie entsteht Stärke, das ist eine spannende Frage. Was braucht man zum Gelingen?

Das ist relativ einfach. Es gibt in vielen biografischen Geschichten immer den einen Erzieher oder die eine Erzieherin oder die eine Nonne oder was auch immer, die in irgendeiner Weise als gut beschrieben werden. Ohne eine persönliche Erfahrung von Nähe, Wärme und Interesse funktioniert es nicht.

Bei den meisten Kindern und Jugendlichen, die im Heim waren, auch damals in der DDR, war das Problem, dass sie das Gefühl vermittelt bekommen haben, als Person nichts wert zu sein oder nicht genügend wert zu sein, und dass sie sich in ihren Bedürfnissen anzupassen hatten – an eine Gruppe, an eine Institution mit ihren Regeln, wobei sie diese Regeln nicht mitbestimmen konnten, sondern die waren einfach vorgegeben und relativ starr und kalt.

Man hat in der Kritik an der Heimerziehung in den 70er Jahren im Wesentlichen immer darüber geredet und das dann auch verändert, dass die Situationen selber so fern von dem Leben waren, das man später zu bewältigen haben würde. Zum Beispiel: eine Großküche führt dazu, dass man nicht weiß, wie Speisen hergestellt werden, sondern man ist abhängig davon, dass sie geliefert werden.

HEZ: Das Ei, das ein Jugendlicher dann bei einem psychologischen Test als Spiegelei malt?

Genau. Das ist kritisiert worden. Dann hat man gesagt, wir müssen die Situationen in den Heimen realitätsnäher und lebensnäher gestalten, damit die Jugendlichen, wenn sie aus den Heimen rauskommen, überhaupt mit der Selbstbewirtschaftung klarkommen, dass sie wissen, wie man etwas kocht oder wie man einkauft. Zum Beispiel auch, dass sie lernen, ihre Kleidung selbst zu kaufen und auszuwählen, also dass sie die Kleidung nicht zugeteilt bekommen. In der schärfsten Form der Fremdbestimmung im Äußeren war das die Anstaltskleidung, die ausdrückte, dass man ein Teil des Kollektivs sein musste und kein Individuum sein durfte.

Ich glaube, dass diese Sache in der Institution sowieso immer ein Teilaspekt bleibt, der problematisch ist. Man kann auch sagen, das ist ein Zielkonflikt. Die Erzieher müssen als Team handeln, sie dürfen theoretisch nicht individuell abweichen und ihren Liebling haben. Sie werden versuchen, möglichst neutral zu sein. Wie kriegt man das hin, einerseits neutral zu sein, andererseits das Besondere auch für jemanden zu sein?

Ich finde interessant, dass bei allen, von denen ich sagen würde, dass sie es geschafft haben, irgendwo positive erwachsene Figuren in ihrem Leben aufgetaucht sind. Das können übrigens auch Lehrer sein, also das muss nicht in der Institution sein. Lehrer, Freunde, also irgendwo brauchen sie jemanden, der sie wertschätzt, um selber genügend Kraft zu tanken, mit einem gewissen Selbstbewusstsein durchs Leben zu gehen.

HEZ: Weil Sie gerade die Lehrer ansprechen: Spielt es auch eine Rolle, ob es außerhalb der Institutionen Lebensbereiche gibt, die die Kinder und Jugendlichen haben, so dass sich nicht alles in der Institution selbst abspielt?

Ja, das ist garantiert so, aber das ist auch gerade wieder ein sehr problematischer Punkt gewesen für viele. Und das gilt vielleicht sogar auch bis heute. Also es gibt sozusagen eine gesellschaftliche Diskriminierung von Heimkindern und die spielt sich in den Schulen ab, das heißt, die spielt sich in den Peergroups ab, und teilweise spielt sie sich natürlich auch im Lehrerverhalten ab.

Ich sagte, dass auch ein Lehrer ein positives Beispiel sein kann. Die meisten Lehrer, von denen wir in den Erzählungen und Geschichten hören, haben so gewirkt, dass die Jugendlichen sich eher in ihren Misserfolgen vorgeführt gefunden haben als dass sie in ihren Talenten gestärkt worden sind. Einmal Heimkind, immer Heimkind – so ungefähr, aus euch kann ja sowieso nichts werden. Eine Lehrerhaltung in diesem Sinne gibt es ja auch gegenüber anderen diskriminierten Gruppen, wodurch wenig die Rest-Motivation geweckt wird, die möglich wäre.

HEZ: Sie erleben in der Beratung etwas, was der einzelne Heimerzieher nie erleben wird, nämlich Menschen, bei denen die Heimerziehung 40, 50 Jahre her ist und die aus diesem Abstand ihre Erlebnisse reflektieren. Ist es typisch, dass in der Heimerziehung erlerntes oder geprägtes Verhalten ein ganzes Leben bestimmt?

Ja. Wir haben ja mit den engagierteren Leuten zu tun. Mit denen erleben wir auch bestimmte Grundmuster, die eigentlich immer etwas mit demselben Thema zu tun haben, nämlich mit der Frage des „Selbstbewusstseins“ bzw. der Ich-Stärke.

Ich würde sagen, dass es sozusagen ein Syndrom gibt. Das heißt, es gibt eine völlige Überbewertung von Autoritäten bzw. von der Macht von Autoritäten. Der Heimleiter ist einerseits derjenige, von dem alles abhängt, weshalb in ihn Hoffnungen in einem unheimlich großen Maße investiert werden. Gleichzeitig ist er eine Hassfigur, weil er diese Hoffnungen enttäuscht.

Es gibt ganz oft die Übergabe von Verantwortung an andere, also es sind immer andere schuld, was von der Grundstruktur durchaus ja bei diesen Menschen stimmt. Aber wenn sie da rauskommen wollen, dann müssen sie es schaffen, dieses Handicap zu überwinden. Deswegen diese Wichtigkeit von Selbstvertrauen und einen objektiven Anlass dafür, weil es natürlich neben dieser erkennbaren Schwäche auch die stehengebliebene Halbstarken-Mentalität gibt. Das ist dieses so tun als ob – ohne einen Sockel von Selbstbewusstsein, zum Beispiel der Pausenclown. Viele erwachsene Menschen, bei denen bestimmte Phasen ihres Lebens nicht wirklich abgearbeitet worden sind, fallen deswegen immer wieder dorthin zurück.

HEZ: Es gab in den 70er Jahren Veränderungen in der Heimerziehung, zum Beispiel die Selbstbewirtschaftung. In den 50er und 60er Jahren haben Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung oft auch in der Wäscherei der Institution gearbeitet, im Garten des Heims, usw. Wo ist da die Grenze zu ziehen zwischen Selbstbewirtschaftung, das reale Leben kennen lernen, und andererseits Kinderarbeit oder unzulässiger Arbeit von Jugendlichen ohne Sozialversicherung?

Das hängt im Wesentlichen von der Gruppengröße ab. In dem Moment, wo es gar keine Kleingruppen gibt, keine überschaubaren Gruppen, sondern eine Gruppengröße von 20 bis zu 300 Kindern und Jugendlichen, ist völlig klar, dass jede Arbeit für das Ganze auch eine Arbeit ist, die mit der normalen Realität von normalen Menschen wenig zu tun hat.

In dem Moment, wo ich kleinere Gruppen von fünf oder sechs Kindern und Jugendlichen habe, wo jeder einzeln überhaupt wahrgenommen werden kann, und wenn dann Selbstbewirtschaftung in dem Sinne stattfindet, dass man das Essen selber zubereitet oder auch einkaufen geht, hat das mit sozialversicherungspflichtiger Arbeit für Dritte bzw. für Fremde wenig zu tun, sondern dann ist es ein Teil eines pädagogischen Prozesses.

HEZ: Es geht also um die familienähnlichen Größenordnungen?

Ja. Wobei moderne Pädagogen wissen, dass die Familie auch eine problematische Institution ist. Oftmals gibt es Jugendliche, die mit der Familie nicht mehr klarkommen. Die suchen dann keine Ersatzfamilie, sondern sie suchen so etwas wie eine Selbstbestimmung in der Peergroup oder in ähnlichen Zusammenhängen, wo andere Formen notwendig sind. Eine Wohngemeinschaft ist noch keine Familie, aber von der Größe her stimmt es natürlich trotzdem. Es geht um die Überschaubarkeit, dass das, was der Einzelne tut, etwas bewirkt – im Guten wie im Schlechten. Die unterschiedlichen Verhältnisse haben unterschiedliche Herausforderungen.

HEZ: Was würden Sie angehenden Fachleuten mit auf den Weg geben wollen?

Für mich ist das Wesentlichste diese Frage von Interaktion mit dem wirklichen Menschen, also das heißt, dass auch in der Erziehung es sehr viel auf die Beziehungsarbeit ankommen muss. Bei den angehenden Sozialarbeitern gibt es teilweise die Tendenz, zu allererst in das Gesetz, in den Arbeitsvertrag oder in die Regularien zu gucken, die der Zuwendungsgeber oder der Fördermittelgeber verordnet, und nicht den Menschen anzugucken, mit dem man zu tun hat.

Das halte ich für eine fatale Entwicklung – die Nicht-Anerkennung der Gleichberechtigung des Hilfebedürftigen und seiner Wünsche, seiner Fehlentwicklungen, seiner Kompetenz, usw., diese Mischung, ja, da würde ich sagen, das muss man der zukünftigen Generation vermitteln.

HEZ: Das klingt nach einer erheblichen Kritik an der heutigen bzw. angehenden Sozialarbeitergeneration.

Das ist nicht unbedingt eine Kritik an der angehenden Sozialarbeiter-Generation, aber an ihrer Ausbildung.

HEZ: Das heißt, eine Entwicklung in Richtung Vermittlung administrativer Verfahrensabläufe versus Werthaltungen?

Ja, es geht im Wesentlichen um die Vermittlung von Verfahren. Man lernt, wie man ein Gespräch zu führen hat, also unabhängig von dem Gegenüber. Das heißt, es gibt eine Einübung in Rituale. Das hat alles durchaus manchmal seinen Sinn. Aber im Kern muss es um etwas anderes gehen. Ich möchte es mal so sagen: die Bereitschaft zur Reflektion auf der Basis ethischer Grundhaltungen wird bei der Ausbildung der angehenden Sozialarbeitergeneration nicht unbedingt ausreichend gefördert.

Schreibe einen Kommentar


*