Kohorst, Dr. J.: Bildung im Stadtteil – eine Herausforderung für Jugendhilfe und Schule

Mit Bildung und Erziehung scheint es in Deutschland nicht gut bestellt. Ein Blick in die Tagespresse zeigt: Viele Familien sind nicht mehr in der Lage, ihren Kindern die notwendigen Kompetenzen, Werte und Umgangsformen zu vermitteln, um in dieser Gesellschaft erfolgreich zu bestehen. Berichte über Kindesvernachlässigung häufen sich, Kinderschutz ist ein dringendes Thema in der Jugendhilfe. Lehrer beklagen sich über den respektlosen Umgang der Jugendlichen untereinander und verzweifeln manches Mal an den unzureichenden Voraussetzungen, die diese für zielgerichtetes Lernen mitbringen. Die gerade veröffentlichte Pisa-Studie vermeldet zwar einige Verbesserungen, betont aber erneut: Wie in keinem anderen OECD-Land hängt der Bildungserfolg noch immer von der sozialen Herkunft ab. Wer aus einer sozial schwachen Familie kommt, darüber hinaus noch in einem sozialen Brennpunkt auf die Schule geht und wer in der Familie nicht Deutsch spricht, der hat deutlich schlechtere Chancen auf einen guten Schulabschluss als ein Gleichaltriger aus besseren Milieus.

Der Neuköllner Norden und in diesem der Reuterkiez mögen beispielhaft für ein solches Umfeld stehen. Er ist ein kleinräumiges Entwicklungsgebiet, in dem sich die sozialen Problemlagen und Risiken entsprechend widerspiegeln und das deshalb auch im Rahmen des Programms Soziale Stadt seit 2003 als Quartiersmanagementgebiet ausgewiesen wurde. Hier leben etwa 19.000 Menschen. Die Arbeitslosenquote ist doppelt so hoch wie im Berliner Durchschnitt, 65 % der Kinder leben in Familien, die Existenzsicherungsleistungen erhalten. An den Schulen und in den Kindertagesstätten kommen teil­weise 90 bis 100% der Kinder aus Familien mit nichtdeutscher Her­kunftssprache.

Bildung erweist sich für den Reuterkiez als ein entscheidender Standortfaktor. Immer wieder überlegen sich Eltern in für die Bildung ihrer Kinder entscheidenden Situationen, ob sie im Reuterquartier wohnen bleiben wollen: Gibt es Kindertageseinrichtungen, in die ich mein Kind mit gutem Gewissen schicken kann und in denen es die Förderung erhält, die es braucht? Kann ich meinem Kind die vorgesehene Grundschule überhaupt zumuten oder erfährt mein Kind dort eher Respektlosigkeit und lernt nicht richtig Deutsch, weil fast alle Kinder aus Elternhäusern mit anderen Herkunftssprachen kommen? Hat mein Kind überhaupt Chancen auf einen anerkannten Schulabschluss, wenn ich es in die Oberschule im Kiez gehen lasse? Viele Eltern beantworten diese Fragen negativ und verlassen den Kiez.

 

Kooperation im Stadtteil – Eine Antwort auf das Ungenügen im Bildungssystem

Wir alle kennen viele Beispiele von Einzelnen, die gut und erfolgreich kooperieren: LehrerInnen, die mit ErzieherInnen zusammenarbeiten, die Eltern mit einbeziehen, guten Kontakt zur Schulpsychologie oder zum Jugendamt suchen und sich engagiert für den Bildungserfolg der Kinder und Jugendlichen einsetzen. Und wir sehen, was einer alleine nicht schafft, gelingt vielen, wenn sie koordiniert an einem Strang ziehen und gemeinsam Verantwortung übernehmen. Das individuelle Beispiel zeigt die Notwendigkeit “systematischer Vernetzung”. Die „Versäulung“ auf allen Ebenen, hier die Kita, dort die Schule, hier die Jugendeinrichtung, dort die Bildungsbehörde usw., dieses Modell wird den Anforderungen einer besseren Bildung, Beratung und Erziehung, die die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen einbezieht, nicht mehr gerecht. Es braucht Kooperationen, gemeinsames Handeln, Abstimmungen – eben Vernetzung.

Deshalb wurde 2007 der Lokale Bildungsverbund Reuterkiez gegründet. Finanziert wird der Verbund aus Mitteln der Sozialen Stadt und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Träger ist die Jugendwohnen im Kiez – Jugendhilfe gGmbH.

Damit ist eine sozialräumlich vernetzte Bildungslandschaft entstanden, die die Stärken des Stadtteils aufgreift, die sich an der bildungsbiographischen Perspektive der Kinder und Jugendlichen orientiert und auf gemeinsame Verantwortung setzt, die Förderlücken wahrnimmt und schließt, die einen Dialog über die pädagogische Qualität mit allen an Bildung interessierten Einrichtungen führt und die vor allem ein hohes Maß an sozialem Vertrauen erzeugt. Hier werden Ideen erprobt, privates Engagement  und private Finanzierung treffen auf öffentliche Förderung und tragen gemeinschaftlich langfristige Veränderungen.

 

Jugendhilfe und Schule – Eine besondere Partnerschaft mit vielen Varianten

Innerhalb des Lokalen Bildungsverbundes hat die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule zentrale Bedeutung. Mit der Einführung der offenen Ganztagsschule in Berlin und dem damit verbundenen Übergang der Ergänzenden Betreuung in die Verantwortung der Schulen und an den Ort Schule ergänzen erzieherische Kompetenzen den Schulalltag. An vielen Schulen geschieht die Gestaltung des Offenen Ganztagsbetriebs in Kooperation mit Jugendhilfeträgern.  Die vom Schulgesetz geforderte Öffnung der Schulen „gegenüber ihrem Umfeld“ fordert zugleich die Zusammenarbeit mit den anerkannten Trägern der Jugendhilfe und dem Jugendamt sowie den Einsatz qualifizierter sozialpädagogischer Fachkräfte. Viele nachweislich erfolgreiche Vorhaben konnten in der Folge in unterschiedlichen Kooperationszusammenhängen zwischen Jugendamt, Senatsverwaltung und freien Trägern umgesetzt werden.

Anlaufstellen für Kinder

So gibt es z.B. an fast allen Schulen des Bildungsverbundes mittlerweile Schulstationen in der Regie freier Träger. In einer solchen arbeiten in der Regel ein/e ErzieherIn und eine SozialarbeiterIn und fördern mit ihren „sozialpädagogischen Kompetenzen“ vor allem Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf. Wenn einzelne Kinder z.B. nicht mehr am Unterricht teilnehmen können, weil ihnen die nötige Konzentration fehlt oder weil sie familiäre Konflikte mit in die Schule gebracht haben, dann können sie die Schulstation aufsuchen und von den Fachkräften dort eine individuelle Förderung erhalten, ihre Sorgen in einer vertrauten und vertraulichen Umgebung besprechen und mit einer solchen Unterstützung in den Unterricht reintegriert werden. In einer Schulstation finden die Kinder einen geschützten Raum zum Entspannen, Ausruhen und Erzählen. Sie können lernen, ihre Konflikt- und Stresssituationen konstruktiv zu bewältigen. In Neukölln haben die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Kooperation mit dem Jugendamt eine Mediationsausbildung erhalten und bilden gemeinsam mit dazu qualifizierten LehrerInnen die Schüler-Streitschlichter an den Schulen aus. Die sozialpädagogischen Beratungskompetenzen stehen aber auch Lehrern und Eltern zur Verfügung. Darüberhinaus vermitteln sie bei Bedarf externe Hilfen, bahnen Kontakte zum Jugendamt an oder vermitteln an Freizeiteinrichtungen oder Sportvereine.

Eine besondere Situation erfordert besondere Lösungen.

Im Reuterkiez ist das Leben manchmal nicht ganz einfach. Arbeit ist schwer zu finden. Ökonomische Not, ein teilweise unklarer Aufenthaltsstatus und geringes häusliches Bildungsniveau bilden die Ausgangsbasis. Mehr als ¾ der Familien haben einen Migrationshintergrund, beherrschen die deutsche Sprache ungenügend und können keine schulische Unterstützung bieten. Der mangelnde Zugang zum deutschen Gemeinwesen und die damit verbundene Unkenntnis bedingen eine distanzierte Haltung gegenüber Institutionen insgesamt und ein „kulturelles Misstrauen“. Bei vielen Kindern führen diese Voraussetzungen zu emotionalen und sozialen Defiziten (Aggressionen, Lernstörungen, psychosomatische Probleme, usw.). Im Schulalltag wird dies deutlich an Verhaltensauffälligkeiten, mangelnder Interaktionsfähigkeit und geringen Lernerfolgen. Die Beteiligung der Eltern am Bildungsprozess und am „Schulleben“ ist eher gering. Ein Kommunikationsprozess mit den Lehrern überwiegend deutscher Herkunft kommt – insbesondere auch auf Grund der mangelnden sprachlichen Verständigungsmöglichkeiten und der kulturellen Distanz – kaum zustande.

Als Versuch einer sozialpädagogischen Antwort auf die beschriebenen schulischen und gesellschaftlichen Probleme von Kindern und Jugendlichen im Quartier wurde im Reuterkiez das Modell „Interkulturelle Moderation“ entwickelt.  Initiatoren des Projekts waren das Quartiersmanagement Reuterplatz und die Jugendhilfeträger Jugendwohnen im Kiez-Jugendhilfe gGmbH und LebensWelt gGmbH, zwei Schwerpunktträger der ambulanten Hilfen im Trägerverbund Neukölln-Nordost.

Interkulturelle ModeratorInnen sind sozialpädagogisch ausgebildete Fachkräfte, die aufgrund ihrer eigenen (türkischen, arabischen, serbokroatischen etc.) Herkunft und Geschichte und den damit verbundenen interkulturellen Kompetenzen besonders geeignet sind zu vermitteln. Sie bauen Brücken der Verständigung zwischen Schülern, Eltern und Lehrern. Sie tragen mittelbar dazu bei, Vorurteile zu überwinden und Verständnis gegenüber den unterschiedlichen kulturspezifischen Verhaltensweisen zu entwickeln. Sie fördern nachhaltig die Integration, da sie zum einen Modellfunktion übernehmen und zum anderen den Mitbürgern und Mitbürgerinnen die deutschen Institutionen und den Umgang mit ihnen näher bringen.

An vier Schulstandorten in Neukölln Nordost arbeiten Interkulturelle ModeratorInnen und tragen wesentlich zur Öffnung der Schule in den Stadtteil bei. Eltern betonen insbesondere, dass die Schwellenangst zur Schule abgenommen hat und sie sich gehört und willkommen fühlen. Ich komme jetzt gerne zur Schule, weil man meine Probleme versteht“, bekundet eine Mutter. Interkulturelle Moderatoren unterstützen die Elterncafés der Schulen und tragen zur Akzeptanz bei: „Man lernt sich kennen, tauscht Erfahrungen aus, bestärkt sich. Es ist gemütlich. Beim zweiten Mal ist man nicht mehr so fremd. Es ist mehr wie auf dem Dorf”. “Ich weiß, da kann ich auch spontan hingehen. Das gibt mir Halt. Gerade, wenn man keine Arbeit hat, ist es eine Bereicherung, andere zu treffen und nicht zu vereinsamen”.

Über gemeinsame Hausbesuche von Interkulturellen ModeratorInnen und LehrerInnen hat sich die Qualität der Zusammenarbeit stark verbessert. Wurden Eltern früher eher als schwer zugänglich angesehen, so ist nun erlebbar, um wie viel positiver der Zugang zur Schule als Institution erfahren wird. Allein die sprachlichen Hürden und die kulturell bedingten Verhaltensunterschiede haben in manchen Fällen ein unüberwindliches Hindernis dargestellt. Durch den Einsatz der ModeratorInnen kann viel adäquater gehandelt werden. „An unserer Schule, glaube ich, haben alle Lehrer schon die Hilfe der ModeratorInnen in Anspruch genommen“, sagt ein Mitglied der Schulleitung. „Ich kann mir die Arbeit ohne sie gar nicht mehr vorstellen.“

Wie sehr sich eine gute Zusammenarbeit zwischen LehrerInnen, Eltern, SozialarbeiterInnen und SchülerInnen auszahlt, zeigte beispielsweise die diesjährige Feier des Opferfestes in der 1.Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli CR2. Die Vorbereitungen und Einladungen wurden gemeinsam bewältigt, SchülerInnen gestalteten ein Programm und die Eltern sorgten für die Vielfalt des Büffets. Mehr als 300 Eltern und Familien aus dem Kiez kamen mit ihren Kindern in die Schule.

Interkulturelle Moderation trägt also erfolgreich zur Öffnung der Schulen in den Sozialraum bei, ist aber dennoch mit jedem Haushaltjahr wieder in ihrem Bestand gefährdet. Ursprünglich mit Mitteln aus dem Quartiersfond gestartet, dann in die Finanzierung durch die Senatsbildungsverwaltung übergegangen, ist das Projekt zurzeit von starken Kürzungen betroffen.

Die genannten Beispiele der Schulstationen und Interkulturellen Moderation sind nur eine stellvertretende Auswahl aus einer ganzen Reihe ähnlich erfolgreicher sozialpädagogischer Angebote wie z.B. dem Schulverweigererprojekt „Die 2. Chance“ oder dem Programm „Jugendsozialarbeit an Berliner Schulen“.

Bildungsnetzwerke setzen auf Beteiligung

Die Zusammenarbeit Jugendhilfe und Schule betrifft allerdings nicht nur den Bereich der „schulbezogenen Jugendsozialarbeit“. Vergleichbar wichtig ist die gute Kooperation mit Jugendfreizeiteinrichtung und anderen Angeboten der offenen Jugendarbeit. Manches Mal machen Lehrer, wenn sie mit Mitarbeitern aus diesen Einrichtungen reden, die Erfahrung, dass Kinder oder Jugendliche, die im Unterricht besonders anstrengend sind und ein hohes Maß an Aufmerksamkeit auf sich ziehen, in den Jugendeinrichtungen zu den aktiven und in hohem Maße geschätzten Besuchern gehören. Untersuchungen zeigen, dass gerade die Angebote der Jugendarbeit von Kindern und Jugendlichen aus Familien mit niedrigem Bildungsgrad und Migrationhintergrund angenommen werden. Dies wird erreicht, indem die offene Arbeit sich stark an der Lebenswelt orientiert, auf Eigeninitiative und Selbstbestimmung setzt und große Kompetenzen im Bereich der Kinder- und Jugendpartizipation entwickelt hat. Umso wichtiger ist es, dass formale und non-formale Bildung sich ergänzen, dass die Schule die positiven Erfahrungen der Jugendeinrichtungen im partizipativen Umgang mit den Kindern aufgreift. LehrerInnen können z.B. mit ihren Klassen die Einrichtungen besuchen, dort gemeinsam Projekte entwickeln und so zur Öffnung der Schule in den Sozialraum beitragen.

Kooperation braucht Perspektiven und langfristige Kontinuität

In den letzten Jahren hat es große Reformen im Bildungswesen und auch in der Jugendhilfe gegeben: Die Einführung der Ganztagsschulen und aktuell die Zusammenlegung der Haupt- und Realschulen zu Sekundarschulen, die Einführung der Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe und die Öffnung der Schulen in die Lebenswelt des Kiezes. Dies hat teilweise zu viel Unruhe geführt, aber zumindest innerhalb des Lokalen Bildungsverbundes Reuterkiez auch zu einem Klima der Zusammenarbeit beigetragen. Es hat sich ein soziales Vertrauen entwickelt, das dazu führt, dass Probleme schneller erkannt werden, Informationen zielgerichteter fließen und Hilfen passgenau gemeinsam entwickelt werden können. Aus Eltern sind Akteure geworden, die eine Elterninitiative gegründet haben und sich aktiv für Bildung im Kiez einsetzen, LehrerInnen arbeiten mit ihren Kolleginnen aus anderen Schulen zusammen, unterstützt von SozialarbeiterInnen und ErzieherInnen. Deutlich ist aber auch: Es arbeiten Menschen zusammen, die sich das gegenseitige Vertrauen Schritt für Schritt erarbeitet haben und die deshalb so gut in gemeinsamer Verantwortung arbeiten können, weil sie dies über einen längeren Zeitraum kontinuierlich entwickeln konnten. Eltern kommen an eine Schule, weil sie wissen, an wen sie sich wenden können und weil dieser jemand Zeit für Sie hat.

Für gute Bildung zu sorgen, ist in belasteten Stadtteilen deutlich schwieriger als in anderen Regionen. Gleichzeitig haben wir nachweislich erfolgreiche Instrumente entwickelt, die zu einer gelingenden Bildungsbiographie von Kindern und Jugendlichen und zu einem gelungenen Schulabschluss  beitragen. Leider ist die notwendige Kontinuität an vielen Stellen immer wieder gefährdet, weil Projektförderungen auslaufen oder Mittel gekürzt werden. Dringend braucht deshalb die Kooperation im Stadtteil politischen Rückhalt, eine verlässliche Steuerung und eine langfristige finanzielle Ausstattung.

 

Dr. Josef Kohorst ist Koordinator des Lokalen Bildungsverbundes Reuterkiez, Jugendwohnen im Kiez-Jugendhilfe gGmbH