Deetjen, C., Stöckigt, K.: Psychisch erkrankte Eltern – Aufklärung und Information als gewichtiger Teilbereich der Beratung

„Wissen vermittelt Hoffnung und positive Zukunftserwartungen, es befähigt …, neue Wege zu beschreiten und ein Gefühl der Kontrolle und Selbstwirksamkeit zu entdecken.“
(Lenz, 2008)

In unserer langjährigen Arbeit als Psychologinnen in der Beratung, Begleitung und Therapie psychisch erkrankter Erwachsener und ihrer Angehörigen haben wir so vielfältige Erfahrungen sammeln dürfen, dass es uns eigentlich fern liegt, die Lebenssituationen und die Bedürfnisse der Betroffenen zu verallgemeinern. Allerdings haben wir auch festgestellt, dass es trotz des Facettenreichtums psychischer Erkrankungen und bei aller Individualität der einzelnen Familienmitglieder durchaus Gemeinsamkeiten in den Hilfevorstellungen der Familien gibt. Um die ohnehin komplexen und oft sehr spannungsreichen Beratungsprozesse für psychisch erkrankte Eltern und ihre Kinder so weit als möglich zu vereinfachen, hielten wir es für sinnvoll, diese zu sammeln und für uns und unseren Kollegenkreis als gebündelte Information nutzbar zu machen.

Zunächst stellten wir in unserer beruflichen Tätigkeit mit psychisch erkrankten Erwachsenen fest, dass Elternschaft im Zusammenhang mit psychischer Erkrankung ein bedeutendes Thema für die Betroffenen darstellt und eng mit dem Genesungsprozess verbunden ist. In der Folge haben wir unsere PatientInnen und KlientInnen direkt befragt, was sie in ihrer Situation als hilfreich erleben würden. Folgende Antworten sollten wir in den darauf folgenden Jahren, in denen wir uns auf das Thema “Psychisch erkrankte Eltern und ihre Kinder” spezialisierten, noch häufiger hören:

  • · Klare Information

Neben Akzeptanz der Erkrankung wünschen sich die Betroffenen verständliche, dem Krankheitsverlauf und dem Wissensstand angepasste Aufklärung über die Erkrankung und ihre Auswirkungen auf sich und ihre Familien.

  • · Entlastung im Alltag

Konkrete Entlastung z.B. in Form einer Haushaltshilfe oder Unterstützung bei der Kinderbetreuung, aber auch als Sozialberatung oder Begleitung bei Ämter- und Behördenangelegenheiten wird als hilfreich erlebt.

  • · Kompetenz und Verlässlichkeit in der Behandlung und Begleitung

Spezifisches Wissen um die Besonderheiten psychischer Erkrankungen ist unumgänglich. So erfordert es häufig eine hohe Frustrationstoleranz, Beziehungskontinuität und persönliche Stabilität um erhöhtem Misstrauen, Ängstlichkeit, verminderten sozialen Fähigkeiten und/oder negativen Hilfeerfahrungen in der Vorgeschichte zu begegnen.

  • · Erarbeitung angemessener Krankheitsbewältigungsmöglichkeiten

Im Austausch mit dem weiteren Hilfenetz gilt es – gemeinsam mit dem Betroffenen –Möglichkeiten des individuellen Umgangs mit verschiedenen Krankheitsphasen zu erarbeiten, z.B. Kennenlernen verschiedener Hilfesysteme, therapeutische Einbindung, Frühwarnzeichen, Erstellung von Notfallplänen u.ä.

  • · Experten in eigener Sache bleiben

Der Genesungsprozess und die Entlastung der Familie sind abhängig von der Mitarbeit durch die PatientInnen. Um diese sog. Compliance zu erreichen, ist es erforderlich, dass er aufgeklärt eigene Behandlungsentscheidungen treffen kann und sein Wissen über seine Situation respektiert und genutzt wird.

  • · Möglichkeiten für Austausch

Isolation ist einer der schwerwiegendsten Faktoren für die Rückfallhäufigkeit bei psychischen Erkrankungen und erhöht das Risiko der Kinder von psychisch erkrankten Eltern selbst zu erkranken. Der Aufbau und die Integration in ein soziales Netz bedeuten im Idealfall konkrete Entlastung, Enttabuisierung der Erkrankung, Verbesserung der Integration, Verminderung von Scham- und Schuldgefühlen und Rückfallprophylaxe.

  • · Eine entwicklungsadäquate Umgebung für die Kinder

Die Bedürfnisse der Kinder decken sich in vielen Bereichen mit denen der Eltern, wie z.B. Bedürfnis nach Aufklärung/Information, Möglichkeiten für Austausch, Entlastung von den alltäglichen Pflichten, die in der Regel für die Kinder umfangreicher werden, etc. Raum für “Kindsein” und verlässliche Inseln der Normalität und des Realitätsabgleichs sind darüber hinaus wichtige Faktoren für die gesunde kindliche Entwicklung und die Förderung der Resilienz der betroffenen Kinder.

 

Bei eingehender Betrachtung dieser Punkte wird schnell deutlich, dass es den Erwachsenen, wie auch den Kindern viel um konkrete Hilfestellung und Entlastung geht. Demzufolge entfällt nach der Exploration der Situation ein Großteil der Beratungsarbeit darauf, über entsprechende Möglichkeiten der Unterstützung zu informieren, die Bereitschaft zur Annahme von Hilfe zu fördern und die KlientInnen ggf. in angemessene Angebote weiterzuvermitteln. Ziel der professionellen Begleitung ist dabei insbesondere die Hilfe zur Selbsthilfe. Die Klienten sollen selbstbewusst und eigenverantwortlich eigene Ressourcen nutzen können, um ihre aktuelle Lebenssituation und auch bevorstehende Krisen angemessen bewältigen und sich gesund weiterentwickeln zu können.

Dieses Selbsthilfepotential der Betroffenen und ihrer Angehörigen lässt sich unserer Ansicht nach vor allem Mithilfe von Psychoedukation mobilisieren.

 

Unter Psychoedukation verstehen wir an dieser Stelle die Vermittlung von Informationen für PatientInnen und Angehörige über Hintergründe der Erkrankung sowie erforderliche Behandlungsmaßnahmen zur Förderung des Krankheitsverständnisses und des präventiven Potentials. Für Familien kann sie außerdem Kommunikationstraining, Training sozialer Kompetenzen und Problemlösefähigkeiten wie auch das Erstellen eines Krisen- und Notfallplanes einschließen.

Wichtig ist dabei, dass die Aufklärung dem Alter und Wissensstand des Gegenübers angepasst und grundsätzlich Hoffnung auf ein ausgewogenes Leben mit der Erkrankung vermittelt wird.

 

Unserer Erfahrung nach verläuft diese Form der Informationsvermittlung jedoch nicht immer reibungslos. Innerhalb der Familien mit psychisch erkrankten Eltern ist das Bestreben nach gegenseitiger Schonung und Rücksichtnahme ein häufiges Motiv zur Vermeidung einer offenen Auseinandersetzung mit der Erkrankung. Am ehesten haben die erkrankten Elternteile das Bedürfnis sich zu erklären und auszutauschen, sie leiden jedoch gleichzeitig unter Scham- und Schuldgefühlen, ihren alltäglichen Aufgaben nicht mehr gewachsen zu sein. Auch die Kinder können sich für erkrankte Elternteile schämen und vermitteln daher manchmal den Eindruck, nichts über die Erkrankung der Mutter oder des Vaters erfahren zu wollen. Sie können sich als Mitverursacher schuldig fühlen und möchten vermeiden, dass diese Schuld im Gespräch ans Licht kommt. Sie können sich hin- und hergerissen fühlen zwischen dem Wunsch nach Normalität und dem Bedürfnis nach Erklärung. Auch ausgesprochene oder verdeckte Kommunikationsverbote können einem offenen Gespräch entgegenstehen und die psychische Erkrankung zu einem Familiengeheimnis werden lassen. Die gesunden PartnerInnen neigen indes oft dazu, der Erkrankung geschuldete Probleme als vorübergehend oder als Reaktion auf eine Belastungssituation zu deuten, um sich nicht mit langfristigen Folgen einer psychischen Erkrankung auseinandersetzen zu müssen. Meist sind die Angehörigen auch zeitlich sehr beansprucht, weil die Bewältigung des Alltags hauptsächlich auf ihren Schultern lastet.

Diese Hindernisse sollten uns nicht davon abhalten, Psychoedukation zur Förderung des Selbsthilfepotentials zu nutzen, von professioneller Seite immer wieder Bereitschaft zur Kommunikation zu zeigen und entsprechende Gespräche anzuregen. Dabei kann es hilfreich sein, einige Voraussetzungen dieser Form der Informationsvermittlung zu kennen und zu beachten: Neben ausreichendem Wissen über psychische Erkrankungen und ihre Auswirkungen sowie über konkrete Hilfsangebote für die einzelnen Familienmitglieder sollten wir dazu in der Lage sein, die Stärken der Familienmitglieder zu erkennen und darauf aufzubauen. Weiterhin gilt es, für Rückfragen bereit zu stehen und diese als positives Zeichen der Mitarbeit und des Austauschinteresses zu werten und zu nutzen, was in der Regel heißt, dass der Kontakt mehrerer Termine bedarf. Außerdem sehen wir gute Zuhör- und Empathiefähigkeit als grundlegend an, um die Wissensvermittlung in den Familien als dialogischen Prozess gestalten und der Familie auf ihrem jeweiligen Stand begegnen zu können. Nicht zuletzt handeln wir als Rollenvorbilder (insbesondere für die Kinder) und sollten daher bei allem Engagement niemals die Grenzen unseres Wissens und unserer Handlungsmöglichkeiten aus den Augen verlieren. Hierfür sind die Möglichkeiten des kollegialen Austausches und der Supervision nicht oft genug zu empfehlen.

 

In der Psychoedukation mit Kindern ist besondere Behutsamkeit gefragt. Außerdem stößt man bei dem Versuch, medizinische und soziale Sachverhalte in kindgerechte Formulierungen zu übersetzen, schnell an eigene Grenzen. Um angemessene Worte zu finden und komplizierte Zusammenhänge zu vereinfachen, hat es uns immer wieder geholfen, Gespräche über psychische Erkrankungen und ihre Folgen mit betroffenen und auch nicht betroffenen Kindern jeden Alters immer wieder zu üben. So haben wir zahlreiche Metaphern und kreative Techniken entwickeln können, die diese vielschichtige Materie auch für jüngere Kinder greifbar und nachvollziehbar werden lassen. Allerdings sind wir dadurch auch regelmäßig mit überfallartigen Rückfragen konfrontiert, die uns wie aus heiterem Himmel zu treffen scheinen und uns erneut um adäquate Formulierungen ringen lassen: “Ist Verrücktsein wie träumen?”, “Ist psychische Erkrankung eine Behinderung?”, “Geht es Mama besser, wenn ich artig bin?” Ganz offensichtlich haben wir uns auf ein Arbeitsfeld eingelassen, das auch von professioneller Seite eine stetige Auseinandersetzung mit den eigenen Ressourcen und dem persönlichen Entwicklungspotential fordert. Im Gegenzug hält diese Arbeit aber auch inspirierende Gespräche, steigende Kreativität und eine Menge Spaß im Umgang zwischen KlientInnen und professionellen HelferInnen bereit und wird uns daher so bald nicht loslassen.

 

Die Autorinnen:

Claudia Deetjen ist Diplom-Psychologin, psychologische Psychotherapeutin, systemische Familientherapeutin und Trainerin für Stressbewältigung. Sie hat langjährige klinische Erfahrung in der Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen und ihren Angehörigen im Einzel- sowie im Gruppensetting.

Kathrin Stöckigt ist Diplom-Psychologin, psychologische Psychotherapeutin und Trainerin für Stressbewältigung. Sie hat vielfältige Berufserfahrung in der Erziehungs- und Familienberatung wie auch in der stationären Psychiatrie und der außerklinischen Krisen- und Psychosebegleitung.

Beide Kolleginnen haben sich intensiv mit der Thematik „Kinder und ihre psychisch erkrankten Eltern“ auseinandergesetzt und gemeinsam eine Einrichtung konzipiert, aufgebaut und geleitet, die Familien mit psychisch erkrankten Eltern(teilen) in Berlin ambulante Unterstützung bietet und die Versorgungssysteme der Psychiatrie und der Jugendhilfe verbindet.

http://www.claudia-deetjen.de/