Hampe-Grosser, A.: Über die Verpflichtung von Supervision in der Arbeit des Allgemeinen Sozialen Dienstes

Je mehr wir von uns verlangen, oder je mehr unsere jeweilige Aufgabe von uns verlangt, 

desto mehr sind wir auf die Kraftquelle der Meditation angewiesen,

auf die immer neue Versöhnung von Seele und Geist.
Hermann Hesse, “Das Glasperlenspiel

 

Um es vorweg zu nehmen, bei dem nachfolgenden Text handelt es sich um ein Plädoyer für Supervision. Ein Plädoyer, welches nicht dadurch motiviert ist der Berufsgruppe von Supervisoren/-innen nach dem Munde zu reden, sondern einer Sorge folgt, die merkwürdigerweise seit Jahrzehnten erkannt aber nicht behoben wird, nämlich der Sorge um fehlende, strukturell verankerte Supervision von Sozialarbeiter/-innen in den Allgemeinen Sozialpädagogischen Diensten(im Folgenden: ASD). Der ASD ist der Basisdienst in den bundesdeutschen Jugendämtern. Zu den Aufgaben zählen (vgl. Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V., 2010, S. 20 ff):

  • „Beratung in Erziehungs- und Familienfragen
  • Krisenhilfe und Eingriff bei Kindeswohlgefährdung
  • Fallverantwortung bei Hilfen zur Erziehung
  • Hilfen bei Trennung und Scheidung: Familiengerichtshilfe
  • Jugendgerichtshilfe“

In der Öffentlichkeit bestehen vermutlich diffuse Vorstellungen über die Arbeit des ASD. In Krisenfällen wird dieser oft synonym als Jugendamt verstanden, im Kern mit 2 populistischen Annahmen: a) Das Jugendamt unternimmt nichts, b) Das Jugendamt greift zu schnell ein.

Bundesweit problematische Kinderschutzverläufe haben in den vergangenen Jahren die Arbeit des ASD weiter qualifiziert (Anmerkungen: inklusive Risiken und Nebenwirkungen).

Dem Bericht des zeitweiligen Ausschusses zur Aufklärung des Todes von Lea-Sophie (Schwerin, 2007) war beispielsweise zu entnehmen:

       Handlungsanweisungen bei drohendem Risiko für das Kind nicht ausreichend

       Risikoeinschätzung unterschied zwischen Kindeswohlgefährdung und Beratungsbedarf

       Lückenhafte und unsystematische Dokumentation

       Interner Informationsfluss und Kommunikation unzureichend

       Einbindung der Hierarchie fehlte

       Fallbezogene Risikoeinschätzung im Team ist unterblieben

       Überprüfungstermine fehlten

       Hilfen zur Erziehung wurden nicht eingeleitet

Die primären Folgen (wertfrei) der verschiedenen Untersuchungen zu diesen und ähnlichen Kinderschutzverläufen waren u.a.: Einführung von zweiphasigen Kinderschutzverfahren (Risikoeinschätzung, Hausbesuch), Einführung einheitlicher Dokumentationsverfahren (z.B. Kinderschutzbögen), Bildung von Kinderschutznetzwerken, Weiterentwicklung von insoweit erfahrenen Fachkräften nach § 8a SGB VIII, Verabschiedung von Landeskinderschutzgesetzen (z.B. Das Berliner Gesetz zum Schutz und Wohl des Kindes, AV Kinderschutz Jug Ges), das für 2012 geplante Bundeskinderschutzgesetz.

Die sekundären Folgen (bewertet) sind weniger populär, prägen aber die Fachkräfte umso mehr:

  1.  Jede/r Sozialarbeiter/-in eines Jugendamtes die/der morgens im öffentlichen Verkehrsmittel/Zeitung von einem Kinderschutzfall liest, prüft zuallererst, ob sie selber betroffen ist; Motivation: Angst, Sorge.
  2.  Die professionellen Fachkräfte „verbünden“ sich zu Superzellen. Die „Klienten“-Familien stehen einem noch machtvolleren Bündnis von Fachkräften gegenüber.
  3.  Strukturell wird nunmehr weder den „Klienten“-Familien noch den Sozialarbeiter/-innen getraut. Zunehmend werden Kontrollinstanzen eingepflegt, die die Kontrolleure (Sozialarbeiter/-innen) kontrollieren.

Dies geht einher mit einem Re-Organisationsprozess der bundesdeutschen Jugendämter, prekären Haushaltslagen der Kommunen, einem Anstieg in den Ausgaben der Hilfen zur Erziehung, einer vielerorts festzustellenden Überalterung der sozialpädagogischen Fachkräfte, fehlenden Möglichkeiten weiterer Einstellungen, und einer generellen Arbeitsverdichtung, postmodernen Anforderungen an die Fachlichkeit (Interkulturelle Kompetenz, Gender, Queer), u.v.m.

Insofern lassen sich weitere Folgen konstatieren, die sich auf der personalen Ebene von Bezirkssozialarbeitern/-innen beobachten lassen: Hohe Fluktuation in den ASD Teams, Zunahme von Erschöpfung, Burn Out, Überforderung, fehlenden Einarbeitungszeiten.

Anzeichen für ein Burn Out (Wikipdia) sind:VermehrtesEngagementfür bestimmte Ziele; man arbeitet nahezu pausenlos; verzichtet auf Erholungs- oderEntspannungsphasen; fühlt sich unentbehrlich und vollkommen; um das darzustellen, entwerten Betroffene häufig andere Teammitglieder und machen sich so bei Kollegen unbeliebt; der Beruf wird zum hauptsächlichen Lebensinhalt; Hyperaktivität; Nichtbeachten eigenerBedürfnisse; Verdrängen von Misserfolgen; Beschränkung sozialer Kontakte auf einen Bereich, zum Beispiel dieKunden, Partnervernachlässigung; Erschöpfung; chronischeMüdigkeit; Konzentrationsschwäche; Schlafstörungen; Drehschwindel; Angstzustände,Depressionen.

Man(n) muss kein Hellseher sein, um die Zusammenhänge zwischen den Beschreibungen über ein Burn Out und den Zuständen in vielen Beschäftigungsstellen der Kinder -und Jugendhilfe, insbesondere im Kinderschutz, zu sehen. Je angespannter die Situation in der Kommune bzw. dem Bezirk ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich das System von innen heraus erschöpft, an seine Grenzen gerät und diese vielleicht überschreitet. Selbstverständlich geht es in diesem Beitrag vor allem nicht darum, für Mitleid oder Verständnis für die Sozialarbeiter/-innen in den ASDs zu werben. Vielmehr ist es die Intention nachzuforschen, wie das System (Öffentlicher Dienst) strukturell Qualitätsinstrumente (präventiver Mitarbeiter/-innen-Schutz) nutzt und zudem auf die o.g. Symptome reagiert (reaktiver Mitarbeiter/-innen-Schutz), um die Systemmitglieder (Mitarbeiter/-innen) zu unterstützen, damit diese ihre beruflichen Anforderungen bewältigen können. Leitner et al markieren ganz zurecht Supervision als Beitrag zur Qualifizierung, Qualitätssicherung und -entwicklung im ASD und führen im Weiteren den vielseitigen Gewinn und Nutzen von Supervision in der Kinder- und Jugendhilfe aus. Feststellen, ob der guten Vorsätze, lässt sich bedauerlicherweise ein gewaltiges Defizit, zeigt sich nämlich, dass in der Praxis jugendamtlicher Sozialarbeit seit jeher bisher die strukturelle Verortung von Supervision fehlt. Im Grunde handelt es sich hierbei um einen Qualitätsskandal im Versorgungssystem. Das ist gerade auch deshalb verblüffend, finanzieren doch die öffentlichen Träger über die Fachleistungsstunden für alle freien Träger eben diese Qualitätsinstrumente wie Supervision. Der ASD ist der Eingangsdienst für Familien, sowohl als freiwilliges (Leistungsbereich) als auch unfreiwilliges (Grau- und Gefährdungsbereich) Klientel. Gerade das angesprochene Doppelmandat führt zu einer emotionalen Zerrissenheit zwischen Klientenorientierung und Kontrolle, mit dem Anspruch auf eine Ambiguitätstoleranz, d.h. Unsicherheiten auszuhalten, Risiken in Kauf zu nehmen, Klienten zuvorderst als Menschen zu betrachten und nicht als Subjekte, auf Notlagen verhältnismäßig zu reagieren, biografische Schicksale von Kindern im Kontext der Herkunftsfamilie achtsam zu managen. Gerade die Mitarbeiter/-innen des ASD benötigen ein hohes Maß an Empathie, respektvoller Haltung, Neugier, Rollenklarheit und Kontextverständnis. Wie erfolgen Personalauswahl und -führung? Welche Spielräume haben öffentliche Träger? Nein, die Mitarbeiter/-innen in den ASDs sorgen nicht gut für sich. Wie sollen sie dann gut für andere sorgen? Hier klafft eine große Lücke. Doch wie Wittgenstein uns aufgab, gehören die Tatsachen alle nur zur Aufgabe, nicht zur Lösung. In Anlehnung daran sollen hier einige Bedarfe für den ASD verdeutlicht werden. Zudem wird markiert, welche Prozesse aus Sicht des Autors unbedingt erforderlich wären. Gemeint sind hier regelhafte, in der Struktur verankerte Prozesse, die nicht nur zufällig, nach Bedarf und bei unsicherer Finanzierung zustande kommen. Der Autor würde es sich wünschen, wenn zumindest die als unbedingt erforderlich gekennzeichneten Prozessbegleitungen freundlich aber verpflichtend durchgeführt würden:

 

a) Organisationsentwicklung, wünschenswert.

b) Coaching von Leitungskräften, unbedingt erforderlich.

c) Supervision von Teams, nach Bedarf.

d) Fallbezogene Einzel- oder Gruppensupervision, unbedingt erforderlich.

e) Supervision (Coaching) zur Weiterentwicklung der beruflichen Identität, nach Bedarf.

(von der Fürsorge zum Fallmanagement)

f) Supervision zur individuellen Gesundheitsprohylaxe, unbedingt erforderlich. (Gesundheitsmanagement; Verdacht auf Burn Out)

 

Begründet wird die Vehemenz mit Erfahrungen aus problematischen Kinderschutzverläufen: In Haftung werden Einzelne, nicht aber Strukturen genommen. Strukturell besteht Einzelnen gegenüber eine besondere Fürsorgepflicht. Der Autor fordert diese ein.

Um an Hesse anzulehnen: Je mehr wir von uns verlangen, oder je mehr unsere jeweilige Aufgabe von uns verlangt, desto mehr sind wir auf die Kraftquelle der Supervision angewiesen, auf die immer neue Versöhnung von Hilfe und Kontrolle, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Routine und Neugier.

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Bericht des zeitweiligen Ausschusses zur Aufklärung des Todes von Lea-Sophie und zur Optimierung des Verfahrens bei Kindeswohlgefährdungen.

Deutscher Städtetag/Deutscher Landkreistag/Deutscher Städte- und Gemeindebund/Deutscher Verein/Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2009): Empfehlung zur Festlegung fachlicher Verfahrensstandards in den Jugendämtern bei Gefährdung des Kindeswohls. 

Fegert, Jörg M. / Ziegenhain, Ute / Fangerau, Heiner (2010): Problematische Kinderschutzverläufe. Weinheim, München: Juventa Verlag

Hesse, Hermann (2002): Das Glasperlenspiel. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (2010): Der Allgemeine Soziale Dienst. München: Reinhardt Verlag

Leitner, Hans / Roth, Klaus / Appel, Klaus (2007): Qualitätsentwicklung im Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes. Oranienburg: Eigenverlag Start gGmbH

Wittgenstein, Ludwig (1984): Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt am Main: edition suhrkamp