Die bislang nur über non-formale Kanäle und in Auszügen bekannt gewordenen Entwürfe zur Reform des SGB VIII im vermeintlich oder tatsächlichen Sinne einer ‚inklusiven Lösung‘ haben, trotz der Gemengelage unterschiedlicher Interessen, massive (und zwar keinesfalls nur ‚konstruktive‘ sondern durchaus fundamentale) Kritik von unterschiedlichsten Seiten auf sich gezogen.
Zu den Entwürfen ist, frei nach Valentin schon alles gesagt worden, nur noch nicht von allen. Ich werde mein Statement daher auf einzelne Aspekte beschränken und diese eher blitzlichtartig als systematisch beleuchten. Dabei geht es mir vor allem um fachliche bzw. sozialpädagogische Implikationen und weniger um die rechtlichen oder administrativen Herausforderungen, die mit dem Versuch verknüpft sind diverse Rechtstatbestände aus SGB IX und SGB XII in das SGB VIII zu imputieren, um so zu einem „einheitlichen Leistungssystem mit einheitlicher Finanzverantwortung“ zu kommen.
Das Inklusionsversprechen der Großen Lösung lautet bekanntermaßen, Leistungen für Familien und junge Menschen unabhängig von Behinderung bereit zu stellen. Die Kinder- und Jugendhilfe werde so für alle jungen Menschen zuständig, die sie als junge Menschen ohne weitere, überkommene Differenzkategorien adressieren könne. An diesem Versprechen bemessen, ist es durchaus enttäuschend, dass die nun im SGB VIII hinzu gekommenen Leistungen in der Regel dezidiert auf junge Menschen beschränkt bleiben, bei denen „eine Behinderung nach § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2 des Neunten Buches vorliegt“. Irgendwie ist sie doch nicht so „groß“ die „große Lösung“.
In diesem Zusammenhang verwundert es, wenn sich die Autor_innen in der Entwurfsbegründung selbst dafür loben, dass Leistungen zur Förderung der Entwicklung und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen keine Kategorisierung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung, ohne Behinderung und nach Art der Behinderung erfordern würden. Die Begründung deckt sich nicht mit dem Entwurf: Die Leistungen für behinderte Kinder und Jugendliche bleiben Leistungen für behinderte Kinder und Jugendliche, sind aber dann (meinetwegen „bedarfsgerecht und zeitnah aus einer Hand) unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe geregelt. Was daran inhaltlich so inklusiv ist, wenn etwas, das vorher im SGB IX geregelt war, jetzt im SGB VIII steht, bleibt ein Rätsel.
Nun ist es aber nicht so, dass Leistungen einfach in das SGB VIII addiert worden sind. Vielmehr ist der Charakter und die Ausrichtung des SGB VIII geändert worden und zwar in einer Weise, die doch sehr deutlich den neuen Steuerungs- und Weiterentwicklungsvorschlägen folgen, die in den letzten Jahren zu massiven Kontroversen geführt haben und von denen man durchaus sagen kann, dass fachliche Qualitätsvorstellungen nicht die treibende Kraft waren. „Hat sich der Pörksen jetzt sein Jugendhilfegesetz selbst geschrieben?“ war ein Kommentar einer Kollegin nach der ersten Lektüre des Entwurfs. Das ist (wahrscheinlich) nicht der Fall. Andererseits hätte ein Entwurf einer Arbeitsgruppe aus den Verfasser_innen des berühmt-berüchtigten sog. A-Länder-Papiers und einschlägigen Vertreter_innen der medizinischen Zunft wohl nur wenig anders ausgesehen.
Eine Reihe von Steuerungsideen, die auf der Grundlage des bisherigen SGB VIII offensichtlich nicht zu machen waren[1], sollen jetzt möglich und ‚legalisiert‘ werden. Ähnlich wie in der Vorstellung Verfasser_innen des A-Länder-Papiers wird der Rechtsanspruch auf das, was vormals die Hilfe zur Erziehung waren, zwar nicht formal nicht beseitigt, aber neu gebastelt, gestutzt und haushaltspolitisch bearbeitbarer gemacht. Dabei ist es argumentativ geschickt auf Austeritätsargumente zu verzichten und stattdessen eine Semantik von Inklusion, Kinderrechten und Stigmatisierungsvermeidung zu bedienen – die Sache selbst macht dies aber nicht besser.
Aus einer fachlichen Perspektive, wäre die Reform vergleichsweise wenig spektakulär, wenn es ‚nur‘ darum gehen würde, dass was bislang in unterschiedlichen Büchern des Sozialgesetztes formuliert war, mit entsprechenden Binnendifferenzierungen in ein Sozialgesetzbuch zu packen oder ‚nur‘ darum, die Zuständigkeit in einer Behörde, dem Jugendamt, zusammen zu fassen.
Allerdings gibt es deutliche Hinweise darauf, dass nicht ‚nur‘ die Behörde, sondern das, was Kinder- und Jugendhilfe ist (bzw. sein soll) massiv verändert wird. Dies wird argumentativ mit dem ‚Inklusionsparadigma‘ begründet. Inklusionsdefizite in der Praxis zu finden dürfte eine vergleichsweise einfache Übung sein. Nicht so klar ist allerdings, wo die rechtlichen Prämissen der Kinder- und Jugendhilfe, wie sie bisher im SGB VIII codiert waren, fachliche Inklusionsforderungen behindert oder in einem Spannungsverhältnis zu der UN-Kinderrechts- oder UN-Behindertenrechtskonvention gestanden hätten. Es ist auch mindestens strittig, ob die Neu-Formulierungen der Kinder- und Jugendhilfe in den vorliegenden Entwurfsauszügen näher an den UN-Konventionen oder fachlichen Inklusionsforderungen sind. Dies gilt zumal eine Veränderung des Status von Kindern und Eltern „vom Objekt staatlicher Fürsorge zum Subjekt staatlich finanzierter Leistungen“ (Wiesner) ja gerade das Projekt jener langfristigen Praxis-Reform waren, dessen (Zwischen-)Ergebnis das KJHG war. Es ist eine Sache dieses KJHG weiter zu entwickeln; fundamental mit seiner Logik zu brechen ist eine andere. Dies gilt zumal sich die Form der Reform nicht gerade durch Transparenz und die Idee eines in der Praxis verankerten Entwicklungsprojekts auszeichnet.
Im Folgenden geht es mir um die fachlichen und Steuerungsimplikationen des Entwurfs für die Kinder- und Jugendhilfe. Diese kommen weitgehend ohne Grundsatzdebatte um die im Prinzip fachlich wenig umstrittene Forderung nach Inklusion oder nach einer Gesamtverantwortung – die ab 2022 in Kraft treten soll – der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder (sans phrase) aus. Im Mittelpunkt stehen die §§ 27 bis 41 SGB VIII und dabei insbesondere das, was bislang den Bereich der Hilfen zur Erziehung kennzeichnete.
In fachlicher Hinsicht ist das erste was dabei ins Auge sticht, dass die Gewährleistung oder genauer, die Nichtgewährleistung einer dem Kindeswohl entsprechenden ‚Erziehung‘ ersetzt worden ist, durch den scheinbar ‚neutralen‘ Begriff der ‚Entwicklung‘. Zwar ist der Erziehungsbegriff im neuen Entwurf in der Arbeitsfassung nicht völlig verschwunden. Aber auch dort, wo er nicht ersetzt worden ist, ist er in der Regel einem breiten Begriffsfeld zugeordnet worden. Von Verbesserungen der Entwicklungs-, Erziehungs- oder Teilhabebedingungen ist nun die Rede. Müßig ist es darüber zu streiten, ob dies nun eine Erweiterung und Präzisierung des Gegenstandes darstellt, oder eine Relativierung des Erziehungsbegriffs. Unstrittig ist allemal, dass Erziehung nicht mehr der Kardinalbegriff des SGB VIII ist.
Dabei mag es ja durchaus sein, dass für Rehabilitationsdienste und Entwicklungspsychopatholog_innen, der Entwicklungsbegriff zunächst naheliegender ist als der Erziehungsbegriff. Für die Kinder- und Jugendhilfe in ihrer bisherigen – im weitesten Sinne sozialpädagogischen – Gestalt irritiert diese Ersetzung jedoch schon alleine insofern, wie ihre typischen Leistungen bislang in der Regel nicht nur dem Begriff, sondern auch dem Inhalt nach, durchaus Hilfen zur Erziehung oder anders formuliert Unterstützungen zur Sicherung und Gestaltung angemessener Care-Verhältnisse waren. Betrachtet man sich zum Beispiel die in der Statistik ausgewiesenen Hauptgründe für die Hilfegewährung in den Hilfen zur Erziehung wird sichtbar, dass ‚individuelle Problemlagen‘ etwa im Sinne von Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten junger Menschen bei deutlich weniger als einem Drittel aller Fälle als primärer Grund für die Gewährung einer HzE angeben werden. Demgegenüber werden zwei Fünftel der Hilfeentscheidungen durch elterliche oder familiale Problemlagen und Konflikte oder eingeschränkte Erziehungskompetenzen der Eltern begründet und ein weiteres Viertel durch Un- oder Unterversorgungen, Betreuungs- oder Förderungsmängel oder eine Gefährdung des Kindeswohls. Der Begriff der Hilfen zur Erziehung scheint demnach der Sache für große Mehrheit der Leistungen durchaus stimmig zu sein, während der Hauptgrund „Entwicklungsauffälligkeiten“ quantitativ eher für eine Minderheit Anwendung fand. Insofern ist es durchaus bemerkenswert, wenn in der Begründung des Entwurfs zu lesen ist, dass die „mangelnde Erziehungsgewährleistung der Eltern […] für die Gewährung einer Leistung zur Entwicklung und Teilhabe“ nicht maßgeblich sei (S. 45). Die Frage ist nun, ob das, was bislang in der Leistungsbegründung im weitesten Sinne als „mangelnde Erziehungsgewährleistung“ – bzw. Probleme der Herstellung geeigneter ‚Care-Beziehungen‘ – attribuiert worden ist, nun als Entwicklungsauffälligkeit darzustellen ist. Selbst wenn das möglich wäre, erschließt sich die gegenstandsbezogene Sinnhaftigkeit eines solchen Unterfangens nicht. (Familiale) Care-Beziehungen sind ein zentraler Gegenstand der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und es ist schwer vorstellbar, dass dies in absehbarer Zeit anders sein wird. Dies dürfte sich auch nicht dadurch ändern, dass der Begriff der Entwicklung in den Vordergrund gerückt wird. Es kann nur spekuliert werden ob und inwiefern all das, was bislang begründet Anlass zu einer erzieherischen Hilfe bot, sich der Sache nach ohne Weiteres als Folge eines „entwicklungsspezifischen Bedarfs“ darstellen lässt. Warum soll es für Hilfen nicht reichen, wenn z.B. ein oder mehrere Elternteile bei der Erziehung und Versorgung ihrer Kinder überfordert sind, warum muss ein Entwicklungsdefizit, eine Entwicklungsauffälligkeit oder wie auch immer man dies dann nennen mag diagnostiziert oder zumindest prognostiziert werden? Doch selbst wenn man sich auf (empirisch im Einzelnen strittige) Umwegbegründungen einlassen würde, wie z.B. dass Probleme bei der Herstellung gelingender Care-Verhältnisse generell ein Entwicklungsrisiko darstellen, ist nur schwer nachvollziehbar, warum der Bezugspunkt für Leistungsansprüche im Gesetz so verändert wird, dass er der Praxis und im Großen und Ganzen auch dem typischen Bedarf nicht oder zumindest weniger entspricht als bisher. Dass Kinder – und nicht lediglich Erziehungssorgeberechtigte – einen eigenständigen Rechtsanspruch haben sollen, lässt sich ja als fachlicher und demokratischer Fortschritt verstehen. Dass dies der Grund sein soll, der zwingend dazu führt, dass der Gegenstand nun mit ‚Entwicklung‘ beschrieben werden muss, erschließt sich nicht.
Jenseits dessen, dass die Rede von einer „kindeswohlorientierten Entwicklung“ im Vergleich zur Rede von einer „kindeswohlorientierten Erziehung“ bereits begrifflich ‚schräg‘ ist[2], wird so der Bezugspunkt für die Gewährleistung einer akzeptierbaren erzieherischen Situation verändert: Es sind nicht mehr die Eltern als Träger_innen der Erziehungsverantwortung. Das ist nun keinesfalls eine Folge der UN-Kinderrechtskonvention, in der Rolle der Eltern oder anderer ‚legal guardians‘ keinesfalls weniger prominent ist als im bisherigen KJHG[3]. Mit den vorgeschlagenen Regelungen des Entwurfs wird demgegenüber zumindest nicht nur (und vermutlich auch nicht primär) die Perspektive der Kinder gestärkt, sondern auch und vor allem das staatliche Wächteramt. Daraus macht der Entwurf auch gar keinen Hehl. Nicht nur in der Begründung wird auf eine „erhebliche Erweiterung der Handlungsspielräume des öffentlichen Trägers bei der Erfüllung des individuellen Rechtsanspruchs“ verwiesen, sondern auch in § 36a wird festgehalten: „Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe entscheidet über die Auswahl der im Einzelfall geeigneten und notwendigen Leistungen nach pflichtgemäßem Ermessen auf der Grundlage des Leistungsplans nach § 38“. Es ist anzunehmen, dass (rechtlich nicht zulässige) Möglichkeiten auf Art und Form der Hilfegewährung durch haushaltsbezogene Vorgaben Einfluss zu nehmen durch diese Maßgabe zumindest nicht erschwert wird. Die Chance dem Verdacht einer Leistungsgestaltung nach Kassenlage entgegenzutreten nur der Gesetzentwurf allemal nicht. Im Gegenteil: Selbst verwaltungsrechtlich kann, nach derzeitigem Stand des Entwurfs nur noch kontrolliert werden, ob die Grenzen pflichtgemäßem Ermessens verletzt wurden. Wo bislang Rechtsansprüche standen, stehen nun administrative Ermessensentscheidungen. Ich wage die These, dass kommunale Behörden doch einiges – wie es im A-Länder-Papier heißt – „weiterentwickeln“ können, ohne in formaler Hinsicht solche Ermessensgrenzen zu verletzen.
Die tendenzielle Abstandnahme vom Begriff der Erziehung als Bezugspunkt ist nur ein Moment der in der Arbeitsfassung sichtbar werdenden ‚Ent-Sozialpädagogisierung‘ der Kinder- und Jugendhilfe. Schon der Begriff kommt nur im Sinne der „sozialpädagogischen Familienhilfe“ und der „intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung“ vor. Beides sind Paragraphen weitgehend aus dem ‚alten‘ SGB VIII übernommen worden sind. Mit Blick auf die Ent-Sozialpädagogisierung ist dabei von Bedeutung, dass nicht nur der Erziehungsbegriff zurückgenommen wird, sondern vor allem auch der der ‚Hilfe‘.
Man könnte mit Werner Thole und Hans Pfaffenberger (2002) argumentieren, dass der Erziehungsbegriff auch in der Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit der letzten 20 Jahre eine abnehmende Bedeutung hatte (kritisch: Ziegler 2012). Für den durch Teilhabe ersetzen Hilfebegriff gilt dies allerdings nicht. Statt von „Hilfen zur Erziehung“ ist nun von Teilhabeleistung die Rede. Auch im Weiteren wird der Begriff der Hilfe explizit vermieden. In der Begründung der Arbeitsfassung wird explizit betont, dass die „Abkehr vom Handlungsbild [sic!] der ‚Hilfe‘ […e]in wichtiger Aspekt“ der Reform sei. Denn: „Hilfe impliziert ein Über- bzw. Unterordnungsverhältnis“. Eine Sensibilität gegenüber Stigmatisierungen und die Kritik an einer „defizitorientierten Perspektive auf das elterliche Erziehungsfehlverhalten“ (Begründung S. 45)[4], ist zunächst selbst dann erfreulich, wenn an anderer Stelle, z.B. in der neu eingeführten Rede von „Leistungen zur Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern“ eine Erziehungsinkompetenz impliziert wird, die ebenfalls nicht frei von stigmatisierenden Attributionen und defizitorientierten Perspektive ist. Nur ist es fraglich ob ‚Hilfe‘ wirklich ein pejoratives Konstrukt ist. Ich tendiere dazu, hier nicht nur ein rhetorisches Konstrukt zu sehen, sondern den Autor_innen des Entwurfs abzunehmen, dass sie der Idee professionalisierter Hilfe tatsächlich skeptisch gegenüber stehen und dass sie ernsthaft glauben, im Begriff der Hilfe stecke Herabsetzendes und Entwürdigendes: Warum sollten 20 Jahre gesellschaftspolitische Dominanz neoliberalen Gewäschs auch ausgerechnet am BMFSFJ vorbeigegangen sein? Kann es nicht sein, dass Micha Brumlik und Wolfgang Keckeisen, als exponierte (damals) Vertreter des Labeling Approach, in ihrer „Kritik und Bestimmung von Hilfsbedürftigkeit für die Sozialpädagogik“ von 1976, nicht fundamental recht hatten, als sie argumentierten, dass sozialarbeiterische Interventionen, bei all ihrer Ambivalenz und trotz signifikanter Ausnahmen im Einzelnen, ihr Fundament in der Regel in einer diskursiv zu ermittelnden aber vernünftigerweise kaum hinweg zu definierenden Hilfebedürftigkeit der AdressatInnen finden und um als vernünftigerweise legitimierbar gelten zu können, auch nachgerade finden müssen?
Jenseits dessen ist für die Soziale Arbeit bedeutsam, dass ‚Hilfe‘ im Sinne eines an spezifische Institutionen gebundenen Funktionsbegriffs[5] bislang einen zentralen „Anknüpfungspunkt der Selbstverständigung der Disziplin“ (Gängler 1995: 135) markiert hatte. Der Begriff der Hilfe dient zur „Umschreibung von Objektbereichen, Methoden und Handlungsmotiven, die ursprünglich in Reaktion auf von der Pädagogik der Aufklärungsepoche vernachlässigte Armutsproblem sowie später in Reaktion auf die soziale Frage und heute in Reaktion auf Schwierigkeiten der Lebensbewältigung Eingang in eine verantwortliche pädagogische Gesamtkonzeption fanden und die man dann in einer pädagogischen Subdisziplin abgelagert hat: der Sozialpädagogik“ (Niemeyer 1994: 180 f).
Es gibt gute fachliche Gründe, den Begriff der Hilfe und auch den der Hilfen zur Erziehung ohne Zweifel einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Unstrittig dürfte jedoch sein, dass der Hilfebegriff bei aller möglichen Ambivalenz es ein fachlich, sozialarbeiterisch angeeigneter Begriff war. An die Stelle dieses Begriffs rückt nun die Rede von Teilhabe, die für sich genommen so breit und opak ist, dass sie neben dem Hilfebegriff noch eine ganze Reihe anderer Begriffe ersetzen kann[6]. Teilhabe ist zunächst die Bezugsgröße des SGB IX. So heißt es in § 4 SGB IX: Menschen mit Behinderung haben Anspruch auf Leistungen zur „Teilhabe am Arbeitsleben“ und auf „Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“. Zumal der Gegenbegriff zur Teilhabe ‚Ausgrenzung‘ oder ‚Exklusion‘ ist, hebt dieser Teilhabebegriff insbesondere auf die positive Norm gesellschaftlicher Zugehörigkeit ab. Es ist fraglich, ob die bislang durch die Hilfen zur Erziehung bearbeiteten Sozialisations- und Lebensführungsproblematiken sinnvoll als Mangel an Möglichkeiten gesellschaftlicher Zugehörigkeit beschrieben werden können. In der theoretischen Debatte ist indes auch ein weiter gefasster Teilhabebegriff präsent. Der Begriff der Teilhabe kann auch als ein Bewertungsmaßstab für sozio-ökonomische, kulturelle und institutionelle Bedingungen und Situationen verwendet werden, dessen normative Zieldimensionen auf die Möglichkeiten der Verwirklichung individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, einer selbstbestimmten Lebensführung und eigener Lebenszielen verweisen. Dies wäre ein Teilhabebegriff, der z.B. mit Amarty Sens Verwirklichungschancenansatz oder Nancy Frasers Konzept einer ‚parity of participation‘ korrespondiert. Die Frage ist demnach, um welchen Teilhabebegriff es geht. Peter Bartelheimer und Jürgen Kädtler (2012) weisen diesbezüglich darauf hin, dass sich die „politische Semantik der Teilhabe gerade durch ihre ‚strategische Ambivalenz‘ für verschiedene sozialpolitische Diskursstrategien“ eigne. Dies gilt zumal sich aus „Teilhabediskursen keine bestimmte Verteilungsnorm“ (52) ergibt und „die Wertidee der Teilhabe bislang nur ausnahmsweise als praktisch wirksamer sozialer Rechtsanspruch konkretisiert wurde“ (51). Auch Nullmeier hebt diesen Aspekt hervor: Wenn Teilhabe vor allem die Chance auf eine an gegebenen Normalitätsstandards orientierte Mindestteilhabe „am Arbeitsmarkt, am Bildungsprozess, an kulturellen Veranstaltungen, an den politischen Entscheidungsprozessen [etc. meint, ist dies in der Regel] weitaus weniger als vormals mit sozialen Rechten impliziert war“ [7](Nullmeier 2007: 13).
Weder in der vorliegenden Arbeitsfassung noch in den bislang vorliegenden Begründungen finden Hinweise darauf, dass der Teilhabebegriff im weiten Sinne von Sen oder Fraser zu verstehen wäre. Der Teilhabebegriff bleibt insgesamt bemerkenswert unterbestimmt. Deutlich wird, dass es um das Einbezogensein der jungen Menschen in für ihre Entwicklung relevante Lebensbereiche geht. Das ist ohne Zweifel relevant aber in dieser reduzierten Form, erkennbar nahe an dem, was Nullmeier kritisiert. Allerdings braucht man über die inhaltliche Füllung des Teilhabebegriffs gar nicht spekulieren. Der Entwurf und die Begründung fundieren ihren Teilhabebegriff zwar nicht, legen aber ein – letztlich verbindliches – Instrument zur Erfassung von Teilhabe vor. Die Frage, ob der Teilhabebegriff sozialpädagogisch angeeignet werden kann, muss überhaupt nicht gestellt werden, weil er gar nicht sozialpädagogisch angeeignet werden soll.
In der Begründung steht auf S. 45f zu lesen: „ Von […] großer Bedeutung für alle Kinder und Jugendlichen ist der Aspekt der sozialen Teilhabe im Sinne von „Einbezogensein in eine Lebenssituation […] Die im Hinblick auf die gesellschaftliche Teilhabe relevanten Lebensbereiche können der ‚Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit‘ (ICF) entnommen werden. Diese findet als Diagnoseinstrument bei der Ermittlung des individuellen Bedarfs von jungen Menschen mit (drohender) Behinderung Anwendung (vgl. § 36b Absatz 2 SGB VIII). Sie kann jedoch bei allen Kindern und Jugendlichen Orientierungshilfe hinsichtlich der bei der Bedarfsfeststellung zu berücksichtigenden Lebensbereiche geben“. Die Frage ist was heißt ‚kann‘. Schließlich soll es insgesamt um ‚Teilhabe‘ gehen und was das sein soll wird eben nur mit Blick auf die ICF präzisiert und bleibt ansonsten, nun ja, appellativ bis wolkig.
Man kann darüber spekulieren, ob die ICF-Diagnostik für den Leistungszugang junger Menschen mit (drohender) Behinderung verbindlich und für junge Menschen ohne (drohende) Behinderung nicht verbindlich ist. Das widerspräche aber der proklamierten Absicht den Teilhabegegenstand zu verallgemeinern. Darüber hinaus wird im Entwurf in § 36b ganz allgemein festhalten dass zur Bedarfsermittlung „systematische Arbeitsprozesse und standardisierte Arbeitsmittel (Instrumente) zur Anwendung“ kommen. Die ICF ist nun das einige genannte standardisierte Instrument. Die Macher_innen und Vertreter_innen betonen darüber hinaus explizit, dass dieses Instrument „auf alle Menschen bezogen werden [kann], nicht nur auf Menschen mit Behinderungen“. Mit Anton Tschechow formuliert: „Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann wird es im letzten Akt abgefeuert“.
Die vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information herausgegebene ICF ist eindeutig ein medizinisches, genauer ‚krankheitswissenschaftliches‘ Klassifikationssystem (Teil der WHO-Familie der Internationalen Klassifikationen). Während etwa die ICD-10 Krankheiten klassifiziert, klassifiziert die ICF dem Anspruch nach Krankheitsfolgen. ICD-10 und ICF sind als ,Komplementärklassifikationen’ konstruiert, d.h. sie sollen sich wechselseitig ergänzen und auch praktisch ruft die WHO Anwender_innen dazu auf, beide Klassifikationen in kombinierter Weise zu verwenden[8]. An dem medizinischen Charakter der ICF ändert auch die Tatsache wenig, dass sie auf einem ‚bio-psycho-sozialen Modell‘ aufbaut, dem Anspruch nach keine Personen, sondern Situationen klassifiziert, ‚Umweltfaktoren‘ einbezieht und nicht nur eine defizit- sondern auch eine ressourcenorientiere Klassifikation darstellt (dazu Lindmaier 2002). Dieses Modell soll, wie die WHO ausführt eine „kohärente Sicht der verschiedenen Perspektiven von Gesundheit auf biologischer, individueller und sozialer Ebene“ ermöglichen.
Nun hat die ICF z.B. im rehabilitationswissenschaftlichen Bereich dazu beigetragen ,Behinderung’ nicht als Merkmal einer Person, sondern ein komplexes Geflecht von Bedingungen zu sehen, „von denen viele vom gesellschaftlichen Umfeld geschaffen werden“ (DIMDI 2005: 24). Umstände etwa, die durch sozio-ökonomische Situation bedingt sind bleiben gleichwohl unerfasst. Erfasst werden nur grundsätzlich mit der ICD beschreibbare Gegebenheiten: Was die ICF erfassen soll bleibt auf ein gesundheitliches Problem eingegrenzt.
Gemeinhin wird die ICF als ein Schritt in Richtung eines sog. ‚sozialen Modells‘ von Behinderung gelesen. Genauer: Als Versuch einer Verbindung vom medizinischen und sozialen Modell, die notwendig wurde weil das – nicht nur von Aktivist_innen sondern auch z.B. von der UN Vollversammlung massiv kritisierte – individualistisch-medizinische Modell seit spätestens der 1980er Jahren nicht mehr durchhaltbar war: weder politisch noch wissenschaftlich. Das biopsychosoziale Modell ist insofern auch ein Rettungsversuch der klassisch medizinischen Sichtweise, dessen dominanter Einfluss im Wesentlichen bestehen bleibt. Eine Speerspitze eines ‚neuen‘ Paradigmas sehen hierin möglicherweise sehr klassische Rehabilitationswissenschaftler_innen. Was die Kinder- und Jugendhilfe betrifft, war die psychosoziale Diagnostik der 1970er Jahre nicht gerade das bewährteste Instrument für ein professionelles, dialogisches Fallverstehen. Ob eine bio-psycho-soziale Diagnostik, die mit Checklisten, Fragebögen und IT-Anwendungen operiert diesbezüglich einen Fortschritt gegenüber der Kinder- und Jugendhilfe auf dem – ja durchaus entwicklungsfähigen – Stand von 2016 darstellt ist fraglich.
Dies gilt zumal auch in der Debatte um Behinderung/Disability/Impairment die ICF eher eine Kompromissformel darstellt. Die zeitgenössische sozial- und kulturwissenschaftlichen Debatten um ‚Behinderung‘ bewegt sich eher in einem produktiven Spannungsverhältnis zwischen einem ‚sozialen Modell‘ von Behinderung und den kulturwissenschaftlichen bzw. dekonstruktivistischen Perspektiven der ‚Disability Studies‘, wobei letztgenannte im Kontext der ICF bestenfalls in homöopathischen Dosen Berücksichtigung finden.
Wie dem auch sei: Die ICF kann mit guten Argumenten als ein Fortschritt gegenüber einer klassisch medizinischen Perspektive auf Behinderung im Sinne einer biophysischen Pathologie betrachtet werden. Auch dass das durch die ICF zum Ausdruck gebrachte Behinderungsverständnis das 2001 in Kraft getretene SGB IX beeinflusst hat, kann als fortschrittliche Reform betrachtet werden (zur Kontroverse: Waldtschmidt 2003). Wenn der ICF-Koordinator vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Michael Schuntermann (2000: 1), konstatiert, dass „die ICF für die Rehabilitation bei der Feststellung des Reha-Bedarfs, bei der funktionalen Diagnostik, bei der Interventionsplanung und bei der Evaluation rehabilitativer Maßnahmen unverzichtbar“ sei, mag dem durchaus so sein. Bezweifelt werden kann aber, dass die ICF das Potential ausschöpft, das zumindest einige sozialwissenschaftliche – und sozialpädagogisch aneigenbare – Begriffe von Teilhabe oder politisch-theoretische Konzeptionen von Teilhabegerechtigkeit aufweisen.
Um nicht falsch verstanden zu werden. Ich bin, abhängig vom Anwendungsgegenstand, kein Gegner der ICF. Vor knapp 10 Jahren habe ich zusammen mit Mark Schrödter im Kontext des Projekts „Wirkungsorientierte Jugendhilfe“ eine Expertise zu einem „Internationalen Überblick und Entwurf eines Indikatorensystems von Verwirklichungschancen“ in expliziter Anlehnung an die ICF verfasst (Schrödter/Ziegler 2007). Dabei haben wir die These vertreten, dass bei entsprechender Reformulierung, Erweiterung und weiterer gerechtigkeitstheoretischer Fundierung auf der Basis der ICF zentrale sozialpädagogisch relevante Fähigkeitsbereiche operationalisiert werden können, die als Instrumentarium für eine standardisierte Wirkungsmessung für die erzieherischen Hilfen tauglich sein könnten, sofern man annimmt, dass sich die Wirkungen der erzieherischen Hilfen an den durch sie eröffneten Verwirklichungschancen festzumachen sei. Bei der Evaluation des Projekts Wirkungsorientierte Jugendhilfe war die Idee Verwirklichungschancen als zentrale Wirkungsindikatoren zu operationalisieren zwar zentral, die (in der gleichen Bielefelder Arbeitsgruppe verorterte) Evaluationsgruppe hat aber – aus einer Vielzahl überzeugender Gründe – nach intensiver Debatte mit Schrödter und Ziegler von einer Orientierung an der ICF Abstand genommen. Dieses Ergebnis war nicht ‚ideologischer‘, sondern pragmatischer fachlicher und methodischer Natur: Operationalisiert man die entsprechenden Dimensionen in einer für die Kinder- und Jugendhilfe relevanten Weise, sind die ICF-Dimensionen der Sache nach so stark zu differenzieren, zu spezifizieren und auch zu erweitern, dass von der ‚Original-ICF‘ wenig übrig bleibt.
Darüber hinaus: Bei dem Vorschlag von Schrödter und Ziegler ging es um den Vorschlag eines möglichen Indikatorensystems zu einer standardisierten Effektivitätsmessung von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe im Sinne einer sozialpädagogischen Forschung und explizit nicht darum ein entsprechendes standardisiertes Tool operativ zur Ermittlung des individuellen Bedarfs in der sozialpädagogischen Praxis einzusetzen. Standardisierte, auf Populationen bezogene Wirkungsforschung ist etwas anderes, als professionelle sozialpädagogische Bedarfsermittlung, die notwendigerweise auf Fallverstehen basiert, um eine je angemessene Inferenzentscheidung (bzw. Entscheidung über Art, Umfang und Ausrichtung einer Maßnahme) zu treffen.
Dieser Unterschied ist nun überaus relevant: Denn die Erfahrungen mit dem Einsatz statistisch durchaus brauchbarer Instrumente für individuelle Bedarfsermittlungen sind bestenfalls ambivalent. Eileen Munro (2011) – eine der zentralen Vetreter_innen einer ‚evidence-based practice‘ – hat dies in ihrem viel beachteten ‚Munro Review of Child Protection‘ anschaulich beschrieben: Die Reformen der englischen Kinder- und Jugendhilfe, die vor allem auf den Einsatz von systematischen Arbeitsprozessen und standardisierten Arbeitsmitteln zielten, „create a very regulated and prescribed working environment […]. Reforms have been implemented through top-down direction and regulation, which has contributed to problems and led to an over-standardised response to the varied needs of children. Managerial attention has been excessively focused on the process rather than the practice of work. In social work, targets and performance indicators have become drivers of practice […]. In turn, this has created an image of the inspection process that perplexes those Ofsted inspectors who seek to take a wider and more qualitative assessment of practice. This top-down approach has also limited the system’s ability to hear feedback from children, families or frontline workers about problems in practice”.
Es gehört zu den Problemen einer “evidence-based practice”, dass das was in einem Wohlfahrtskontext funktioniert, in einem anderen nicht unbedingt erfolgreich ist (eine Erfahrung, die sich jüngst leider mit Blick auf Programme ‚Früher Hilfen‘ gezeigt hat). Arbeitsprozessreformen aber, die einem Nachbarland aus nachvollziehbaren Gründen mehr Schaden als Nutzen angerichtet haben, sehenden Auges und mit erwartbar gleichen Effekten just in der offensichtlich gescheiterten Form einzuführen wird aber gemeinhin nicht als Klugheit diagnostiziert.
Standardisierte Diagnose- und Klassifikationsinstrumente sind immer dann problematisch, wenn sich ihre notwendigerweise selektive Aufmerksamkeit nicht nur klar definierte und spezifisch begrenzte Symptomatologien richtet, sondern diffuse, ambige, deutungs- und interpretationsbedürftige Praktiken und Situationen erfasst werden sollen. Soziale Arbeit, die sich dem Gegenstand nach mit Lebensführungspraktiken von Akteur_innen beschäftigt und entsprechend nicht für ein eng umgrenztes Spektrum von spezifischen Problemen zuständig ist, setzt im Gegensatz zu spezialisierten helfenden Berufen gerade keine eingegrenzte diagnostische Semantiken voraus. Soziale Arbeit hat es, wie es Albert Scherr (2013: 229) formuliert, offensichtlich mit Menschen zu tun, „die eigene Vorstellungen über ihre Lebensbedingungen, Bedürfnisse und Interessen entwickeln, die ihr Leben aktiv führen sowie sich eigensinnig mit den Zwängen und Bedingungen auseinandersetzen, mit denen sie konfrontiert sind. […Dies] ist eine Einsicht, die keine komplexen theoretischen Bemühungen voraussetzt. [… Sie] ergibt sich von selbst, wenn Adressaten Sozialer Arbeit anders als in der objektivierenden Perspektive sozialwissenschaftlicher Klassifikationen und Daten in den Blick genommen werden“. Der Vorwurf des vermeintlichen Mangels an standardisierten, ‚wissenschaftlich geprüften‘ Diagnoseinstrumentarien, die in der Lage sind ‚klinisch-relevante‘ Symptome trennscharf zu erfassen, ist unter bestimmten Umständen durchaus nachvollziehbar, gründet aber in der Regel teils auf Missverständnissen und nicht selten auf Unverständnis.
Der Entwurf ist nun offensichtlich von der Idee beseelt, dass es für die Kinder- und Jugendhilfe – erfreulich, dass diese nicht in Kinder- und Jugendentwicklungsdienst umbenannt werden soll – den Einsatz von systematischen Arbeitsprozessen und standardisierten Arbeitsmitteln braucht. Selbst wenn man dies akzeptieren würde, ist fraglich ob eine ‚sozialer‘ gemachte, medizinische Diagnostik, die zwar auf Teilhabe, aber eben nur mit Blick auf gesundheitliche oder gesundheitsbezogene Domänen abhebt und die weder in der Lage ist sozio-ökonomische zu erfassen noch personenbezogenen Kontextfaktoren näher definieren und klassifizieren wirklich tauglich ist für eine sozialpädagogische Ermittlung des individuellen Bedarf des Kindes, des Jugendlichen oder des jungen Volljährigen ist. Dies bringt letztlich das auf den Punkt, was ich mit einer Ent-Sozialpädagogisierung der Kinder- und Jugendhilfe meine. Folgt man dem Entwurf und seiner Begründung sind weder der Gegenstand, noch die Zugangsweise noch die Zieldimension in einem engeren Sinne sozialpädagogisch.
Wenn es bei dem Einsatz der standardisierten Mittel ‚nur‘ um die Bedarfsermittlung potenzieller Leistungsadressat_innen gehen würde, wäre die Problematik insofern etwas beschränkt, weil weniger die Diagnose (was ist das Problem), sondern die Inferenzentscheidung (was ist zu tun) den Kern professionellen Handels in der Sozialen Arbeit darstellt. Doch auch die Inferenzentscheidungen sind von dem Entwurf betroffen. Was der Entwurf hierzu vorzuschlagen hat, ist zunächst einmal ein bürokratisches Monstrum. In § 38 wird festgelegt dass die Dokumentation des Verlaufs und der Ergebnisse der Leistungsplanung in Schriftform zu erfolgen hat. Was der Leistungsplan „mindestens“ zu enthalten hat ist es wert vollständig zitiert zu werden:
- die Beschreibung der Lebens-, Entwicklungs- und Erziehungssituation des Kindes oder des Jugendlichen oder die Beschreibung der Lebens- und Entwicklungssituation des jungen Volljährigen,
- die dadurch begründete Feststellung des individuellen Bedarfs des Kindes, des Jugendlichen oder des jungen Volljährigen,
- die daraus abgeleitete Auswahl der geeigneten und notwendigen Leistungen hinsichtlich Ziel, Art und Umfang,
- das Gesamtziel der Leistung,
- Beginn und voraussichtliche Dauer der Leistung,
- die zur Bedarfsermittlung nach § 36b eingesetzten Instrumente,
- die an der Leistungsplanung Beteiligten und die Form ihrer Einbeziehung,
- die Ergebnisse der Leistungsplankonferenz,
- die Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts nach § 5 und
- die Erkenntnisse aus dem Gutachten nach § 36b Absatz 2 Satz 3, aus der Stellungnahme nach § 36b Absatz 3, aus dem Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte nach § 37 Absatz 3, aus der Einbeziehung Dritter nach § 37 Absatz 4.
§ 36 SGB VIII ‚alt‘ (Mitwirkung, Hilfeplan) war diesbezüglich nicht nur deutlich kürzer, sondern hatte vor allem einen anderen Charakter. Das Hilfeplanverfahren soll bislang dem Ziel dienen, den Bedarf erzieherischer Hilfe für einen jungen Menschen festzustellen und die für ihn notwendigen und geeigneten Hilfen zu bestimmen. Der ‚neue‘ Leistungsplan hat demgegenüber eine sehr klar und explizit formulierte Funktion die sich bisher so nicht fand: „Er dient der Steuerung und Wirkungskontrolle des Leistungsprozesses“.
Zusammengefasst: Es geht um standardisierte und zu dokumentierende Diagnostiken, aus denen der Bedarf, die Leistung und die Leistungsziele abgeleitet werden und zwar in einem Verfahren das primär der Wirkungskontrolle dient. Die, wie es in der Begründung heißt „hinsichtlich ihrer Verfahren und Instrumente verbindlich[e] und strukturiert[e] Leistungsplanung“, wird dabei bis auf die Ebene der Instrumente kleinteilig im SGB VIII durchreguliert. Über eine Ent-Sozialpädagogisierung hinaus ist dies eine Managerialisierung der Kinder- und Jugendhilfe qua Gesetz.
Das fachliche Orientierungen, namentlich „Lebensweltbezogenheit und Sozialraumorientierung“, mit Blick auf die Leistungsplanung gesetzlich eingefordert werden, ist ebenfalls irritierend. Es ist unbestritten, dass die Lebensweltbezogenheit de facto und mit guten Gründen für das SGB VIII in der derzeit gültigen Fassung eine wesentliche Hintergrundphilosophie darstellt. Auch die sozialräumliche Orientierung hat im gegenwärtigen Fachdiskurs ohne Zweifel eine prominente Position. Aber auch wenn man die Prämissen des Handlungskonzepts einer Sozialraumorientierung als fachliche Prinzipien teilt (wofür es mehr oder weniger akzeptable fachliche Gründe geben mag), stellt sich die Frage, warum ein bestimmter Ansatz im Sinne eines Gebots zur Entwicklung von Gestaltungsvorgaben für eine Sozialraumorientierung an den öffentlichen Träger durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz oktroyiert werden soll.
Es wird relativ schnell offensichtlich, dass es weniger um das Handlungskonzept einer sozialräumlichen Orientierung geht, sondern dass Sozialraumorientierung das Chiffre für eine Steuerungsidee ist, in der (teure) Einzelfallhilfen reduziert und entsprechende individuelle Rechtsansprüche – genauer, das Gebot der Bedarfsdeckung durch die Gewährung von individuellen Rechtsansprüchen – zwar nicht formal aber faktisch und fianzierungsrechtlich geschliffen werden. Wiederum sind das A-Länderpapier und das – bislang an den Verwaltungsgerichten gescheiterte – Hamburger Steuerungsmodell mit seinen sog. „Sozialräumlichen Hilfen und Angeboten“ die Blaupause. Es lohnt ein Blick auf das – später rhetorisch relativierte – Original A-Staatssekretäre-Papier zur „Wiedergewinnung kommunal-politischer Haushaltsfähigkeit zur Ausgestaltung von Jugendhilfeleistungen“ von 2011. Die Kernidee war den Rechtanspruch durch eine Gewährleistungsverpflichtung des öffentlichen Jugendhilfeträgers zu erbringen und durch ein verpflichtendes infrastrukturelles Regelangebot zu erfüllen. Anders formuliert geht es darum individuelle Hilfen – oder meinethalben ‚Teilhabeleistungen‘ – in Infrastrukturangebote und Gruppenangebote (im Idealfall an sog. ‚Regelsysteme‘ angedockt) zu überführen. Nur am Rande: Im A-Staatssekretäre-Papier wurde relativ klar zum Ausdruck gebracht, dass man nicht willens sei, die erheblichen Finanzmittel für die individuellen Einzelleistungen weiterhin in der bisherigen Form zu veräußern. Im SGB VIII Entwurf ist das selbstverständlich nicht der Fall – es ist alles Ausdruck einer menschen-, kinder- und behindertenrechtlichen Teilhabeidee. Teilhabe wird also dadurch sichergestellt, dass ein Vorrang von Gruppenleistungen vor Einzelangeboten formuliert wird. „Infrastrukturell[e] Angebote oder Regelangebote“ sollen den individuellen Hilfebedarf decken. Während ansonsten gerne auf ‚Effektivität‘ verwiesen wird, interessieren empirische Befunde zur selektiven Inanspruchnahme und zur Wirksamkeit solcher Angebote mit Blick auf die typischen Problemlagen der bislang typischen Adressat_innen der HzE ungefähr so viel, wie der sprichwörtliche Sack Reis, der in China umfällt. Das erwartbare Hindernisrennen der Adressat_innen erst einmal an einer Reihe von Regel- und Gruppenangeboten zu scheitern, bevor eine individuell bedarfsangemessene Einzelfallhilfe implementiert wird, wird in Kauf genommen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Rechnung dieser Radikalisierung des Nachrangs sogar aufgeht: Wenn die Betroffenen bei diesem Hindernisrennen ‚aufgeben‘, lassen sich einige teure Einzelfallhilfen durch präventive Angebote verhindern – nicht weil die Problematik reduziert wird, sondern weil der Bedarf ungedeckt bleibt.
Dass Träger vor diesem Hintergrund um die Bewirtschaftung ganzer Sozialräume konkurrieren werden wird offensichtlich ebenfalls erwartet. In Begründung des Entwurfs wird explizit davon ausgegangen, dass „Leistungen in Anspruch genommen werden können, ohne dass der Leistungsträger über die Leistungsgewährung im Einzelfall entscheidet“. Deshalb „erhält er [der Leistungsträger] die Möglichkeit die Effektivität und Effizienz dieser Angebote über eine Beschränkung des Anbieterkreises im Sozialraum sicherzustellen“. Dass dies das rechtliche Dreiecksverhältnis die Trägerpluralität und die Trägerautonomie berührt liegt auf der Hand. Dabei ist noch einmal daran zu erinnern, dass Regelungen an anderer Stelle nahelegen, Rechtsansprüche faktisch durch Ermessensentscheidungen zu ersetzen.
Die Einwände ließen sich – etwa mit Blick auf eine Absenkung fachlicher Standards bei einer Reihe neuer Hilfeformen – lange fortführen. Weitere Fragen lauten z.B. wie folgt: Ist es ein Fortschritt mit Blick auf die „Stärkung von Kindern und Jugendlichen“ Ombudsstellen zu etablieren, wenn zugleich die Möglichkeiten verwaltungsgerichtlicher Kontrolle der Handlungsentscheidungen öffentlicher Träger kastriert werden? Ist es wirklich ein Fortschritt für junge Volljährige wenn Hilfen praktisch lediglich noch als Anschlusshilfen gewährt werden und deren Gewährung primär an der Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung festgemacht werden. Bei aller Begeisterung für medizinische Expertisen (die zumindest mit Blick auf die Quantität und Qualität der aus der ‚8a-Statistik‘ rekonstruierbaren Gefährdungsmeldungen nur mäßig fundiert ist): Muss man wirklich die bereits in der Formulierung des Teilhabegegenstands implizierte medizinische Imprägnierung der Kinder- und Jugendhilfe noch dadurch verstärken, dass „ärztliche Melder/-innen“ (die anderen aber nicht) in den Prozess der Gefährdungseinschätzung einbezogen und diese „auch nach erfolgter Meldung ans Jugendamt am weiteren Prozess beteiligt werden“. Und sind die Urheber_innen dieser doch weitreichenden Forderung wirklich der Meinung, dass das Argument, die Motivation zu Meldungen könne so erhöht werden[9], als Begründung verfängt?
Ein Aspekt scheint zum Abschluss wichtig: Die Reform soll kostenneutral erfolgen. Selbst wenn man – was nicht zu vermuten ist – davon ausgehen würde, dass die formalisierten und bürokratisch aufgeblähten Verfahren ohne zusätzliche (Personal-)Kosten zu bewältigen seien, sind eine Reihe von zusätzlichen Aufgaben verankert worden. Vor allem aber verändert sich die Klientel. Die typische Klientel der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe hat bislang selten auf ihren Rechtsanspruch bestanden. Würde sie dies tun wären die Fallzahlen in den HzE wohl erheblich höher als dies bislang der Fall ist. Ein aktives Einfordern von Rechtsansprüchen findet man bislang insbesondere im Kontext von Leistungen nach § 35a SGB VIII. Es wundert absolut nicht, dass gerade bei diesen Maßnahmen der Anteil von Nutzer_innen, die nicht in Armutslagen sind (genauer Transferleistungen beziehen) überproportional hoch ist. Hinzu kommt (wie ausgeführt), dass auch Infrastrukturangebote empirisch eindeutig überproportional von Nutzer_innen in Anspruch genommen werden, die hinsichtlich ihrer Problem- aber auch sozio-ökonomischen und sozio-demographischen Charakteristika nicht die ‚klassische Klientel‘ der Hilfen darstellen. Darüber hinaus korrespondiert der neue Gegenstand der Teilhabebeeinträchtigung zumindest in der im Entwurf vorgeschlagenen Interpretation, nicht notwendigerweise mit den Problem- und Lebenslagen, die bislang im Fokus der Kinder- und Jugendhilfeleistungen waren. Auf was ich hinaus will ist folgendes: Faktisch sind die Adressat_innen der HzE Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe Menschen in sozial besonders verwundbarer Lage, die sich empirisch überwiegend aus unteren Klassenlagen rekrutieren. Die Klientel der Kinder- und Jugendhilfe verschiebt sich nun und diese Umgestaltung soll kostenneutral gestaltet werden. Hier lohnt ein Blick in die Ausführungen des 14. Kinder- und Jugendberichts. Dieser hebt die Tatsche hervor, dass sich „Kinder und Jugendliche aus Familien mit Migrationshintergrund, geringen Einkommen und niedrigen Bildungsabschlüssen […] seltener unter den Nutzern öffentlicher Angebote als andere Kinder und Jugendliche“ (BMFSFJ 2013: 342) finden. Entsprechend argumentieren die Autor_innen des Berichts, dass sich „die Hoffnung, dass die Ausweitung der Inanspruchnahme öffentlicher Angebote fast automatisch zu einem Ausgleich herkunftsbedingter Benachteiligungen und einer Verbesserung der Teilhabechancen von Kindern aus weniger privilegierten Verhältnissen führt, bislang nicht erfüllt [… hat. Stattdessen]scheint das Gegenteil der Fall zu sein. […] Ungleichheiten [wurden] nicht verringert, sondern […] tendenziell verstärkt, da die wohlfahrtsstaatlichen Angebote von verschiedenen Gruppen unterschiedlich genutzt werden“ (BMFSFJ 2013: 342). Diese Tendenz ist mit Blick auf die intendierten Reformen relevant. Bei Neudefinitionen des Gegenstands und der Adressat_innengruppen geht eben auch um wohlfahrtsstaatliche Verteilungskämpfe. Es ist erwartbar, dass die neue Mittelschichtsklientel tendenziell gewinnt und die klassische Klientel der Kinder- und Jugendhilfe entsprechend verliert. Ich warte gespannt auf die Argumente warum dies ‚Teilhabe‘ fördert und auch vor dem Hintergrund der UN-Kinderrechtskonvention dringend erforderlich ist. Und wenn man gerade bei der UN-Kinderrechtskonvention ist, darf man auch auf die Beifallsstürme der entsprechenden UN-Kommissionen gespannt sein, was abgesenkte fachliche Standards mit Blick auf minderjährige Flüchtlinge betrifft.
Aus fachlicher Sicht ist der Entwurf ‚below the threshold‘. Aber es gibt Grund zur Hoffnung: Es ist nicht erwartbar, dass dieser Entwurf je Gesetz wird.
Literatur:
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Prof. Dr. Holger Ziegler
Fakultät f. Erziehungswissenschaft
Universität Bielefeld
[1] Eine erhellende Erörterung der Entwicklungen in diesem Kontext, die durchaus als Vorbereitungen für diesen Entwurf gelesen werden können, findet sich in Seithe/Heintz 2014.
[2] Bei Bernfeld ist Erziehung die Summe der bewussten gesellschaftlichen Reaktionen auf die Entwicklungstatsache. Nun ist es sinnvoll dass sich diese Reaktion am Kindeswohl orientieren soll, die Forderung, dass sich die Entwicklungstatsache am Kindeswohl orientieren soll macht demgegenüber allemal weniger Sinn.
[3] Über den Familiarismus in der UN-Kinderrechtskonvention kann man ja normativ-politisch trefflich streiten (dazu Clark 2014). Aber man kann nicht so tun, als gäbe es ihn nicht. Artikel 18 der UN KRK, d.h. der Artikel zur Verantwortung für das Kindeswohl, lautet: „(1) Für die Erziehung und Entwicklung des Kindes sind in erster Linie die Eltern oder gegebenenfalls der Vormund verantwortlich. Dabei ist das Wohl des Kindes ihr Grundanliegen. (2) Zur Gewährleistung und Förderung der in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte unterstützen die Vertragsstaaten die Eltern und den Vormund in angemessener Weise bei der Erfüllung ihrer Aufgabe, das Kind zu erziehen […]“. Es ist überhaupt nicht ersichtlich wo die bisherigen Hilfen zur Erziehung dem nicht entsprechen. Interessant ist vielmehr, wie man mit der UN KRK argumentieren will, dass „mangelnde Erziehungsgewährleistung der Eltern […] für die Gewährung einer Leistung zur Entwicklung und Teilhabe“ nicht mehr maßgeblich sein soll.
[4] Es wird ein durchaus ‚interessantes‘ Bild von der bisherigen Kinder- und Jugendhilfe gezeichnet, das auf den ersten Blick einen rhetorischen Überbietungswettbewerb mit dem Labeling Approach der 1970er gewinnen würde. Mit Blick auf die Verfahren zur Diagnostik, die durchaus an die Logiken der psychosozialen Diagnosen des JWG erinnern, findet sich jedoch keine Reminiszenz an den Labeling Approach (genau hier wäre dies jedoch sinnvoll).
[5] Ansonsten wird treffend darauf verwiesen das „Praxen des Helfens und der Hilfe […zunächst] elementarer Teil menschlichen Alltagshandelns und eingewoben in die Gestaltungsformen von Alltag“ seien.
[6] Bei § 35 SGB VIII wird aus dem Satz „intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung soll Jugendlichen gewährt werden, die einer intensiven Unterstützung zur sozialen Integration und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung bedürfen“ nunmehr der Satz „intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung soll Jugendlichen gewährt werden, die einer intensiven Unterstützung zur sozialen Teilhabe und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung bedürfen“
[7] Entsprechend hat der Teilhabebegriff weites Herz. So folgte etwa die Arbeitsmarkreform dem „Konzept des aktivierenden Sozialstaats. […] Ziel dieser Politik ist es, die Autonomie und Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger in Wirtschaft und Gesellschaft zu stärken“ (Deutscher Bundestag 2006: 9). Oder wie es Scholz 2003 formuliert hatte: „Unter dem Gesichtspunkt der Teilhabe […] ist selbst schlecht bezahlte und unbequeme Erwerbsarbeit besser als transfergestützte Nichtarbeit“.
[8] „Die ICD-10 stellt eine ›Diagnose‹ von Krankheiten, Gesundheitsstörungen oder anderen Gesundheitszuständen zur Verfügung, und diese Information wird mit zusätzlichen Informationen über die Funktionsfähigkeit, welche die ICF liefert, erweitert. Informationen über Diagnosen (ICD-10) in Verbindung mit Informationen über die Funktionsfähigkeit (ICF) liefern ein breiteres und angemesseneres Bild über die Gesundheit von Menschen oder Populationen, welches zu Zwecken der Entscheidungsfindung herangezogen werden kann“ (DIMDI 2004: 10).
[9] Nur am Rande: Es wird vermutet, dass Ärzte im Zweifelsfall eher keine Meldung machen. Anders formuliert sie machen nur ‚zweifelsfreie‘ Meldungen. Naja. 34% der Gefährdungsmeldungen aus dem medizinischen Bereich führten laut entsprechender Statistik zum Ergebnis einer akuten oder latenten Kindeswohlgefährdung. Das ist deutlich unter dem Durchschnitt aller Meldungen von Institutionenvertreter_innen. Rechnet man die Gefährungsmeldungen ‚anonymer Melder_innen‘ heraus, ist es auch erkennbar unter dem Durchschnitt aller Meldungen. Es geht mir hier nicht um ein ‚Ärztebashing‘. Zu diesem gibt es in der Tat keinen Anlass. Es gibt aber auch keinen Anlass dazu, die vermeintliche Sonderstellung und überragende diagnostische Kompetenz des ärztlichen Blicks zu mystifizieren.