Der folgende Beitrag bezieht sich auf das „alte“ Thema des Verhältnisses von Hilfen zur Erziehung und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Der Text basiert auf einer Untersuchung in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Die HEZ-Leser/innen können entscheiden, welche Ergebnisse und Erkenntnisse für Berlin und Brandenburg gültig sind.
I. Kinder-/Jugendhilfe und Kinder-/Jugendpsychiatrie als Verflechtungsraum
Ein erheblicher Teil der Klientele der beiden Systeme ist in den Charakteristika, die den Hilfebedarf bestimmen, und in den Personen identisch. „Waren es vor 10 Jahren noch etwa 10 bis 15% der jungen Menschen, die im Rahmen der Jugendhilfe betreut wurden, die auch Kontakt mit vor allem stationärer Jugendpsychiatrie hatten, so sind es aktuell über 30%“ (Fegert / Schrapper in dieselben (Hrsg.) 2004, 17). Aus der Perspektive der Jugendpsychiatrie wird vermutlich (bundesweit repräsentative, gesicherte Daten fehlen) etwa jedes siebente Kind vor der oder gleichzeitig zur Behandlung durch eine/n Kinder- und Jugendpsychiater/in auch durch die Jugendhilfe betreut (vgl. eine konservative Schätzung bei Fegert / Schrapper in dieselben (Hrsg.) 2004, 17). Eine im Rahmen der vorliegenden Untersuchung befragte Kinder- und Jugendpsychiatrie berichtete allerdings von 50% junger Psychiatrieklient/innen, die mit Jugendhilfe Kontakt hatten, davon etwa 30% im Rahmen von stationärer Unterbringung. Mindestens ein Drittel der jungen Menschen aus vollstationären Jugendhilfe-Kontexten mit Psychiatrieerfahrung war vorher in anderen Heimen untergebracht. Vermutlich verdoppelt sich die Gefahr des Einrichtungswechsels durch psychiatrisch relevante Symptome. Je circa 40% der gemeinsamen Klientele sind sechs bis zwölf bzw. zwölf bis 16 Jahre alt.
Die Kinder- und Jugendhilfe und die Kinder- und Jugendpsychiatrie sind zwei von einander unabhängige Hilfesysteme. Sie haben je ihre eigene Geschichte, theoretischen Bezüge und Methodiken, sie unterscheiden sich in ihren Zweckbestimmungen, Aufgaben, Rechtsgrundlagen, Finanzierungsquellen, Zugangswegen und Organisationsformen. Voraussetzung für die Gewährung von Jugendhilfe ist der erzieherische Bedarf, der in einem Aushandlungsprozess definiert wird. Voraussetzung für psychiatrisch-medizinische Leistungen ist der Behandlungsbedarf, über den der Arzt/die Ärztin entscheidet, wobei Eltern die Behandlung ihrer Kinder ablehnen können.
Psychiatrische Hilfe heißt im Kern Diagnostik und Therapie von Krankheiten. Es dominiert in Korrespondenz mit Verweildauern von bis zu acht Wochen eher verhaltenstherapeutische und medikamentöse Behandlung; gelegentlich werden auch systemische Verfahren eingesetzt. Schulische, berufliche und pädagogische Förderung bleibt nicht zuletzt auf Grund der durchschnittlich kurzen Behandlungszeiträume randständig.
Das Ziel der Kinder- und Jugendhilfe liegt in der Unterstützung des Eltern-Kind-Systems und insbesondere des Erziehungsprozesses. Die stationäre Jugendhilfe hat die Aufgabe, auf Zeit familienersetzend Versorgung zu sichern, einen Schutzraum zu bieten, Alltag zu strukturieren, soziales Lernen zu begleiten, belastbare Beziehungen, entwicklungsfördernde Unterstützung und Auseinandersetzung zu ermöglichen. Ist die Jugendhilfe eher charakterisiert durch komplexe, diffuse, alltagsnahe und unbestimmte Handlungsstrategien, erscheint das psychiatrische Vorgehen im Vergleich überschaubar, von Ziel-Mittel-Klarheit gekennzeichnet.
Behandlungs- und Therapiebeziehungen in der Klinik und pädagogische „Alltagsgestaltung und -management“ in Einrichtungsgruppen sind also ganz unterschiedliche Milieus. Als exemplarischer Beleg mag die Einschätzung gelten, dass im Zuge aggressiver Eskalationssituationen in der Klinik „sofort fünf Kräfte über den Notruf alarmiert werden können und auch medikamentöse Beruhigungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen“ (Klinikpsychologe). In mit einheimischen Mitteln nicht bearbeitbaren Belastungssituationen überweist die Kinder- und Jugendhilfe junge Menschen an die Psychiatrie. „Hierbei geht es vor allem um Entlastung und Schutz aller Beteiligten, erst danach um „Clearing“, die Erstellung von Diagnosen sowie um eine möglichst schnelle und zuverlässige Krisenintervention“ (Fegert / Schrapper in dieselben (Hrsg.) 2004, 21). Seit Ende der 1980er Jahre sind solche Systemwechsel auch als Abschiebung seitens der Jugendhilfe „gelabelt“ und die Erhellung der Dynamik gilt als Forschungsthematik. Gintzel / Schone (1990) identifizierten drei Überweisungsmuster in der Jugendhilfe: permanente Ratlosigkeit; plötzlich auftretende Hilflosigkeit; schleichende Eskalation. Mehr als zehn Jahre später spricht Fegert (vgl. Wehner 2002) noch und wieder von „zynischen Verschiebebahnhöfen“ durch Fehlplatzierungen in der Psychiatrie. Kurz: Der Überschneidungsbereich stellt einen gelegentlich spannungs- und kostenträchtigen Sektor dar, der für beide Systeme, vor allem aber Kinder und Jugendliche zu einer erheblichen Belastung führen kann.
Die allgemeine Rede vom Verflechtungsraum von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie bedarf der Konkretisierung. Zu unterscheiden sind:
a. Leistungssysteme Kinder- / Jugendhilfe und Krankenversicherung (gesetzliche Zuständigkeit und damit Finanzierung)
b. Fachdisziplinen und Professionen (Sozialpädagogik und Kinder-/Jugendpsychiatrie; als Bindeglied kann die Eingliederungshilfe nach SGB VIII §35a, als Methode zwischen den Systemen Psychotherapie gelten)
c. Spezielle Dienste / Einrichtungen (ambulant, teilstationär, stationär in beiden Handlungsfeldern)
In zeitlicher Struktur lassen sich konsekutive (von der Psychiatrie in die Jugendhilfe und umgekehrt) und simultane Leistungserbringungen unterscheiden. Häufige Verbindungsstellen im Alltag sind
– Abklärungsersuchen des Jugendamtes,
– Neufälle für die Jugendhilfe nach stationärem Klinikaufenthalt,
– Unterbringung in Krisen aus einer stationären Jugendhilfeeinrichtung.
II. Die Untersuchung
Mit der vorliegenden Untersuchung soll die Schnittstelle Jugendhilfe / jugendpsychiatrischer Kontext aus klinischer Perspektive erkundet werden. Meines Wissens liegt damit der erste Bericht vor, der dezidiert einen solchen Außenblick auf die Jugendhilfe einholt. Die Ziele der Befragung waren:
a. Bewertungen der Angebotsstrukturen und Betreuungspraxen in der Jugendhilfe recherchieren,
b. Erfahrungen mit Kooperation und Ideen für den Ausbau kennen lernen
Zum Untersuchungsdesign: Es wurden zehn Experteninterviews durchgeführt, davon acht Face-to-Face-Gespräche in Kliniken und zwei Telefoninterviews (sechs Standorte, vier aus Nordrhein-Westfalen und zwei aus Niedersachsen). Fünf der sechs medizinischen Gesprächspartner/innen arbeiten als leitende Ärzt/innen (eine niedergelassene Psychiaterin); je zwei Interviews entfielen auf die Berufsgruppen der Psycholog/innen und der Kliniksozialarbeiter/innen. Die leitfadengestützten Experteninterviews dauerten im Durchschnitt 60 Minuten und wurden auf Tonträger aufgenommen (acht Vor-Ort-Gespräche) bzw. in den Kernaussagen protokolliert (zwei Telefoninterviews). Auf Grund der geringen Zahl wird in der Folge weitgehend sowohl auf Quantifizierungen als auch auf Berufsgruppenvergleiche verzichtet. Zudem ist zu berücksichtigen, dass in keiner Weise ein repräsentatives Bild der Jugendhilfe gezeichnet wird. Es ging in dieser Untersuchung um qualitative Befunde auf der Ebene von subjektiven Wahrnehmungen, was das Gültigkeitsniveau beschränkt. Der Nachteil, dass schon eine einzelne Aussage eines Mitarbeiters bzw. einer Mitarbeiterin Eingang in die Auswertung findet, ohne dass damit eine breitere, geteilte Bewertung verbunden ist, muss fortlaufend mitgedacht werden. Zudem wurde dezidiert auf Schwierigkeiten fokussiert, wodurch eine Formulierung und Abbildung von gelingender Praxis nicht herausgefordert wurde.
III. Untersuchungsergebnisse
In der Folge werden einige ausgewählte Ergebnisse vorgestellt, die Reflexionsprozesse in der Jugendhilfe anstoßen wollen.
Untersuchungsbereich A „Eigenwahrnehmung und Verhältniswahrnehmung“
Die Eigenwahrnehmung psychiatrischer Professionalität wurde nicht explizit erfragt. Kritisch-selbstreflexive Blicke wurden von der Psychologie und der Sozialarbeit in der Klinik „von allein“ formuliert. Psychiatrien fordern sich selbst vor allem durch das nichtärztliche Personal, vom (auch) selbst gestrickten Olymp herunter zu kommen sowie die Sockelzuweisung abzulehnen und sich stattdessen als „Fachlichkeit zum Anfassen“ zu präsentieren (Klinikpsychologe). „Tatsächlich ist die KJP für die Jugendhilfe zum Teil immer noch eine „Black box“, die am Ende „schlaue Sprüche“ produziert, ohne dass deutlich wird, wie diese in der Betreuungspraxis umzusetzen sind. Teilweise gehen aus den Kliniken fachsprachlich verfasste Diagnosen heraus, die mit Blick auf alltagspädagogische Jugendhilfe-Kontexte von diesen adaptiert werden müssten. Zudem wird von uns als psychologischem Fachpersonal auch gesehen, dass Vorschläge wie „Verhaltenstraining mit klaren Strukturen“ im komplexen Gruppenalltag nicht einfach zu übersetzen sind.“ (Klinikpsychologe). Von der „Jugendhilfe in der Klinik“ wird vermerkt: „Die Ärzteschaft ist geneigt, auf Grund ihrer Fachlichkeit und der Kliniklogik den Takt anzugeben“ (Kliniksozialarbeiter).
In der Bewertung des aktuellen Verhältnisses von Jugendhilfe und Psychiatrie zogen die befragten Expert/innen mit Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte einhellig durchaus ein überwiegend günstiges Fazit. Auch für die Rezeption der folgenden Ergebnisse ist diese Deutungsfolie wichtig: Zwei der befragten Psychiatrien artikulierten nur in geringem Maße kritische Einschätzungen, obwohl auch hier in Einzelfällen ungünstige Kooperationsverläufe verzeichnet wurden. Auch die übrigen drei Kinder- und Jugendpsychiatrien, die sich auf Nachfragen zu vertieften kritischen Blicken „verleiten“ ließen, verwiesen immer wieder auch darauf, dass sich die Zusammenarbeit in den vergangenen fünfzehn Jahren deutlich verbessert habe. Als Indikatoren für eine positivere Bezogenheit wurden u.a. genannt: „Informationsniveau verbessert“; „gegenseitige Wertschätzung gestiegen“; „Klima entspannter“. Diese positiven Entwicklungen wurden durchgängig geschildert und trotz ungünstig verlaufender Einzelfälle in keinem Interview abgeblendet. Einige Kennzeichen des neuen Verhältnisses:
– Gestiegenes Interesse
Alle befragten Expert/innen erleben sowohl Einrichtungen als auch Jugendämter häufig als interessiert an fallbezogenen Einschätzungen durch die Psychiatrie.
– Dialogische Fachkommunikation durch Regionalisierung
Durch das zunehmend umgesetzte Regionalisierungsprinzip in der Jugendhilfe gebe es günstige Möglichkeiten sowohl für Grundsatz- als auch für Fallbesprechungen mit den Jugendämtern. Neue bedarfsgerechte Jugendhilfeangebote konnten in einzelnen Regionen in der Vergangenheit gemeinsam ersonnen und verabredet oder gar miteinander entwickelt werden. Negative Einschätzungen dominieren, wenn „mit bis zu 19 Jugendämtern“ und „23 Einrichtungen“ zusammen gearbeitet werden soll.
– Kenntnissteigerung und Kontextsensibilität
Das Informationsniveau habe sich insgesamt deutlich verbessert. Hier und dort könne man auch von einer breiteren Sensibilisierung für jeweilige berufliche Selbstverständnisse und institutionelle Handlungszwänge ausgehen.
– Erhalt von Fachlichkeit trotz Kostenbewusstsein
Zwar würden für kostenintensive Unterbringungen inzwischen durchgängig schriftliche Einschätzungen der Klinik verlangt. Wenn die Notwendigkeit jedoch sorgfältig begründet werde, sei Kosteneinsparung in der öffentlichen Jugendhilfe „kein ehernes Prinzip“ (Arzt).
Kurz: Man hat auf die wechselseitige Verwiesenheit gestalterisch reagiert. Die Kooperation im Alltag sei „oft besser als die Rede darüber“. Allerdings identifizierten fast alle Interviewpartner/innen neue Spannungen, die vor allem dem sowohl von Krankenkassen als auch von Jugendämtern ausgeübten Kostendruck zugeordnet werden.
Jedoch wurde auch Kritik am System der Jugendhilfe geäußert. Etwa die Hälfte der befragten Expert/innen artikulierte eine fachlich gerichtete Unzufriedenheit mit der Jugendhilfe. Dabei wurden Unterscheidungsmerkmale zu Gunsten des eigenen Systems offensiv annonciert.
– Fehlen von Kontrolle und Qualitätssicherung: Jugendämter und auch freie Träger seien im Vergleich zu den Kliniken deutlich geringer in ein Qualitätssicherungs- und fachliches Kontrollsystem eingebunden.
– Mangel an psychiatrischer Expertise in der Jugendhilfe: Psychiatrien verfügen über sozialarbeiterisches Know how, umgekehrt sei psychiatrische Expertise in der Jugendhilfe (vor allem in den Sozialpädagogischen Diensten der Jugendämter, aber auch in den meisten Einrichtungen der freien Träger) nur sehr gering entwickelt.
– Innovationsstau in der Jugendhilfe (siehe unten)
In der Folge sollen Beschwerden über die öffentliche Jugendhilfe in den Hintergrund treten, um ausschließlich von Kliniken wahrgenommene Entwicklungsbedarfe in Einrichtungen freier Träger zu fokussieren. Auch hier wurde von den befragten Expert/innen wieder durchaus differenziert argumentiert. Während ein Teil der Einrichtungen überwiegend positiv bewertet wurde, galten andere Einrichtungen jedenfalls für komplex belastete Kinder und Jugendliche als weniger geeignet. Moniert wurde:
– Abladung von Klientel bei Krisen in Jugendhilfe-Einrichtungen
Eine psychologische Fachkraft hob eine prüfende Haltung bei zweifelhafter Inanspruchnahme hervor und formuliert daraus Erwartungen: „Wir wollen keine Abladestation für die Jugendhilfe sein. Das Kind ist für die Jugendhilfe weg – und keiner ruft mehr an. Es gibt gewissenhafte Jugendhilfe-Einrichtungen, deren Überforderung wir gut annehmen können. Da läuft ein Jugendlicher aus der Spur, die kommen in Not, weil der offene Rahmen diese Belastung nicht trägt. Da stehen wir zur Seite. Anderen Einrichtungen, die eine Abschiebementalität zeigen, verweigern wir uns – zumal wir sowieso immer voll sind. Wir wünschen uns von der Jugendhilfe aktives Zugehen und Dranbleiben, wenn der Jugendliche für durchschnittlich drei Wochen bei uns entgiftet. Wir brauchen auch Informationen von der Jugendhilfe, auf Grund einer Haltung wie „Ich schicke Ihnen mal alles, was wir haben!“. Das wäre schon hilfreich“ (Klinikpsychologe).
– Unzureichende systematische Vernahtung zwischen Einrichtungen und (niedergelassener) Psychiatrie an Verbindungsstellen
Häufig fehlt diese systematische Verzahnung. „Es erscheint als schnelle Idee, man könne mal bei uns nachfragen, auch, um die Verantwortung vorübergehend abzugeben. Bei mir sehe ich immer wieder Jugendliche, die viele Einrichtungen „durch“ haben, die viele Bezugspersonen erlebten. Vorgestellt wird eine sehr gestörte Klientel, die aber nicht therapiemotiviert ist, traumatisierte, schwer bindungsgestörte, oft von Suchtmitteln abhängige junge Menschen, die das aber nicht sehen und die keine Motivation zur Bearbeitung haben. Solche Jugendlichen kommen, aus Einrichtungen geschickt, zwei, drei Mal zu mir. Dann verschwinden sie wieder und es findet keine Reflexion mit der Einrichtung und ggf. dem Jugendlichen statt“ (Ärztin).
– Qualifikationsdefizite
„Die Mitarbeiter/innen in der freien Jugendhilfe sind teilweise, in den überforderten Einrichtungen, nicht in der fachlichen Spitze, der Entwicklung hinterher. Ich sehe hier noch viel Holzschnittpädagogik: Bestrafen und Belohnen; Regeln: rigide oder gar nicht – ggf. durchsetzbar nur um einen hohen Preis wie drei Wochen Kontaktsperre nach draußen. Dabei ist zum Beispiel der Freund die einzige stabilisierende Figur im Leben des Mädchens. Es fehlt in Einrichtungen, die unsere Kinder übernehmen, zum Teil eine psychodynamisch geleitete Sicht. Grundlegende biographische Verstehensprozesse werden versäumt. Das Wissen über Familiendynamik und Entwicklungspsychologie, Psychopathologie und Krankheiten ist unterentwickelt. Kurz: Wir bräuchten in der Jugendhilfe Fallverstehen aus empathischer und aus einer der Funktionslogik der Einrichtung verpflichteten Perspektive. Und wir haben zuviel alltagspsychologisch standardisierte Pädagogik. Sicher gibt es große Unterschiede zwischen Einrichtungen hinsichtlich des Aus- und Fortbildungsniveaus. Deeskalationstraining muss zum Beispiel regelmäßig geübt werden. Das ist in Kliniken für alle Usus. Ich als zur Weiterbildung Ermächtigter muss ein Punkteheft zur Nachweisführung akzeptieren – in der Jugendhilfe existiert kein vergleichbares Prozedere“ (Arzt).
Untersuchungsbereich B „Strukturelle Angebotsqualität für Entlassklientel“
Die Bewertung der regionalen Jugendhilfe-Angebotsstruktur bezieht sich auf Nordrhein-Westfalen. Wie bewerten die Kliniken die Qualität der Abnahmeseite?
Psychiatrische Kliniken sagen „Ja“ zur Spezialisierung. Alle Befragten waren sich einig, dass spezialisierte Gruppen und Einrichtungen für die Entlassklientel unabdingbar seien. Die allgemeine Sozialpädagogik und reguläre Settings wurden einhellig nicht als hinreichend beurteilt, wenn es um „schwer verständlich handelnde“ Kinder gehe. Insgesamt wird die strukturelle Angebotsdifferenzierung als bedarfsgerecht eingeschätzt. Manche junge Menschen müssen allerdings überregional untergebracht werden. Eine ärztliche Leitung setzt diesen Rahmen: „Wir fragen uns oft: Wo lassen wir Psychotiker, Borderliner, Drogenmissbraucher, emotional Instabile, sexuell Auffällige, schwer Dissoziale und Delinquente – eben solche mit schwersten Belastungen.“ Eine „Bottle neck“-Situation besteht auch für weiterhin rare Angebote an der Schnittstelle Drogenhilfe / Jugendhilfe, insbesondere für junge Menschen zwischen zwölf und 14 Jahre, aber auch für Drogen exzessiv missbrauchende ältere Jugendliche. Eine andere ärztliche Leitung fasst zusammen: „Suizidales, autoaggressives Verhalten mit dichten Betreuungsanforderungen wäre meine erste Priorität bei der Frage nach mangelnden bedarfsgerechten Angeboten, der fachlich verantwortliche Umgang mit hochaggressiven Kindern und Jugendlichen hätte bei mir zweite Priorität. Dann werden wir immer wieder Mal mit Fällen von Trebe konfrontiert. Wir als Klinik sollen festhalten, wenn die Gefahr besteht, dass ein Mädchen zum falschen Freund geht. Wir sind hier zunehmend zurückhaltend geworden und fragen: Ist das wirklich unsere Aufgabe, diese grundsätzliche gesellschaftliche und pädagogische Dissensproblematik mit Aufnahme für einige Tage zu beantworten?“ (Arzt).
Die große Mehrheit der Expert/innen verweist auf die Vorteile von größeren Einrichtungen
a. Fast immer seien diese Einrichtungen stabiler, in ihrem „Standing“ belastbarer.
b. Sie könnten bei Überlastung interne Gruppen-, Bezugspersonen- und Settingwechsel ermöglichen. Hier wird gerade das Ausweichen aus Beziehungsverstrickungen und ggf. Auflösung von unaushaltbarer Nähe zum Qualitätsmerkmal der Betreuung.
c. Die Angebotsvielfalt ist hier größer, Spezialisierungen in Form dezentraler Varianten ermöglichen, dass besondere Bedarfe beantwortbar werden, weil spezielle Expertise im Rahmen von Personalentwicklung erworben wird.
d. Zudem sind hier zweite Reflexionsschienen durch fachliche Leitung und ggf. Hauspsycholog/innen gelegt.
e. Eine ärztliche Leitung resümiert: „Auf Grund der erhöhten Fallzahl lohnt sich für uns bei größeren Einrichtungen die Zeitinvestition in fallübergreifende Strukturentwicklung.“
Als erschwerend wird in größeren Einheiten erlebt, dass zwei bis drei Hierarchieebenen immer auch Konfliktstrukturen nahe legen, die sich nachteilig auf die Betreuung auswirken können. Zudem wird (auch) hier ein hoher Aufnahmedruck gesehen, wobei nicht immer genügend geklärt sei, ob die Einrichtung dem kommenden Jungen oder Mädchen auch wirklich gewachsen ist und ob es einen Gruppenplatz gibt, wo es passt.
In Kleinsteinrichtungen wurde von mehreren Gesprächspartnern ein höherer Grad an Verkrustung identifiziert. Für komplex belastete Kinder werden kleine Einrichtungen oft nicht als günstig erachtet. Diese hätten erstens häufig unrealistische Erwartungen an Kliniken. Zweitens werde zu schematisch häufig auf die Generalantwort „Beziehung und Beziehungsarbeit“ gesetzt, ohne lebensgeschichtlich, psycho- und familiendynamisch zu verstehen, „was läuft“. Übersehen werde, dass „manche komplex verstörte Kinder und Jugendliche verbindliche und dichte Beziehungsangebote nicht vertragen können“ (Arzt). Drittens könnten diese die Unausweichlichkeit des Bezugs nicht wirklich mildern und geben in Belastungssituationen schneller auf. Hier schlägt eine Persongebundenheit negativ durch.
Vermerkt wurde durchgängig, dass fachlich angezeigte Intensivbetreuung als strukturelles Element von Hilfekonzepten fast immer schwierig zu finanzieren und/oder in Krisensituationen von Einrichtungen nur mit außerordentlichen Kraftakten organisierbar sei. Hier sieht sich die Psychiatrie – wie oben formuliert – für „uneigentliche Zwecke“ funktionalisiert und fordert von der Jugendhilfe eigene, heimische Lösungen. „In Krisen nehmen wir maximal drei Tage auf. Jugendhilfe hat oft Angst vor dem Wochenende. Wir passen auf, dass wir nicht falsch vereinnahmt werden“ (Arzt). Eine aufschlussreiche Antwort auf die Frage nach passenden Angeboten und Settings fokussiert eine mangelnde Flexibilität, statt Forderungen nach perfekteren immobilen Angeboten zu erheben. „Größere regionale Anbieter verschenken Wirksamkeit durch zu feste, abgeschottete Hilfeform-Korsetts. Ambulante, teilstationäre, stationäre Settings, Begleitung in der Schule, Auszeiten, Krisenintervention – das müsste durchlässiger und flexibler gemäß akuter Erfordernisse kombinierbar werden, im Sinne von Baukastenmodulen und Stand by-Verfügbarkeit“ (Arzt).
Aus Sicht mehrerer befragter Expert/innen werden Komplex- und Kombinationsangebote gebraucht, mit Elementen wie
– schulische Bildung,
– Berufsorientierung, Arbeitstraining, berufliche Vorbereitung und Ausbildung,
– psychologische Begleitung,
– pädagogische Maßanzüge, die mitwachsen.
Oft müssten allerdings Abstriche im Erwartungshorizont vorgenommen werden, weil geeignete Plätze kurzfristig bzw. im Nahraum nicht verfügbar sind, Eltern nicht zustimmen oder Kosten- und fachliche Überlegungen in den Ämtern zu anderen Entscheidungen führen.
Untersuchungsbereich C „Pädagogische Angebotsqualität“
Optimierungsbedarf wird in den Bereichen des Fallverstehens und der pädagogischen Genauigkeit gesehen. Negativ vermerkten mehrere Expert/innen, dass sich in Einrichtungen manchmal wiederhole, was in den Lebensgeschichten gelaufen ist. Eine flexible Nähe-Distanz-Regulation und professioneller Umgang mit Abwertung wurden mehrfach als zentrale pädagogische Herausforderungen im Umgang mit der gemeinsamen Klientel benannt. Solche Hilfekonzept-Elemente werden nur als Folge von Fallverstehen implementierbar sein. „Viele Kinder vertragen keinen „Brutkasten“, es gibt hier strukturell zuviel feste und erwartete Nähe. Bei Platzierungen muss man genau schauen, in welche Einrichtung und in welche Gruppe wir Kinder geben, zum Beispiel: Sexuell Missbrauchte gehören nicht mit Dissozialen zusammen. Oft sollten wir die Geschlechter trennen. Emotional Vernachlässigte sind meistens in größeren Einrichtungen besser aufgehoben, weil die Nähe-Distanz-Balancierung dort besser zu leisten ist. Für traumatisierte, bindungsgestörte Kinder sind familienähnliche Settings kontraindiziert; wechselnde Bezugspersonen entlasten beide Seiten. Misshandelte etwa können in teildistanzierten Bezügen oft besser gehalten und ausgehalten werden. Unerzogene Kinder brauchen feste Zügel, eine sichere Hand, klare Regeln. Wir müssen ihnen zeigen, wo es lang geht. Unsere Psychotiker, depressive und manische Klienten benötigen Rahmung und Schutz“ (Ärztin). Für die Zielgruppe der Bindungsgestörten mit Nähewunsch und Nähe-Vermeidungs-Reflex, mit Abhängigkeitssehnsucht und Abhängigkeitsangst etwa seien Settings sinnvoll, die mittlere Dichte-Abstands-Niveaus und flexible Regulation ermöglichten, weil nur so (beidseitige) Überforderung, Verstrickung, Panik vermeidbar seien (Ärztin). Fallverstehen und pädagogische Genauigkeit beinhaltet zusammengefasst:
– Verstehen, was lebensgeschichtlich, entwicklungspsychologisch, familien- und psychodynamisch „los ist“
– Wiederholungsdynamiken und Übertragungen erkennen
– Umgang mit Abwertung professionalisieren
– Flexible Nähe-Distanz-Regulierungen (Gefahren: zu viel Nähe; abrupte Distanzierung bei Agierverhalten)
– Passung von jungen Menschen, Setting, Gruppe
Das Thema des Haltes und Haltens wurde in drei Dimensionen artikuliert: als Mentalität, als Interaktionsmodalität sowie als Set von Strukturvariablen im Sinne von feststehenden Abläufen, Regeln und Ritualen.
– Mentalität: Aufgeklärtes Aushalten (auch „Rücknahmegarantien“)
Für alle Einrichtungen sei es eine Herausforderung anzunehmen, dass sich bei manchen Betreuten im Sinne einer progressiven Entwicklung „wenig Sichtbares tut“ (bzw. Veränderungen nur durch genaue Wahrnehmungen nachweisbar seien) und Kinder zunächst ausgehalten werden müssten (Klinikpsychologe). Ein solches Aushalten dürfe jedoch nicht vorrangig reaktives unaufgeklärtes Erleiden sein. Einrichtungen, die aus Sicht der Psychiatrie allzu schnell aufgeben oder gar „Rücknahmegarantien“ verweigern, wurden einhellig negativ bewertet. Prinzipiell benötigt würden Einrichtungen „mit einem breiten Kreuz, die nicht so schnell zu erschüttern“ seien (Arzt).
– Interaktion
Eine „konsequente Pädagogik“ gilt einhellig als fachliche Anforderung, die eine erhebliche Zahl der Einrichtungen nicht zu decken in der Lage sei. Konsequenz wird gerade in der „Kunst“ gesehen, erstens Erwartungen zu formulieren und Regeln aufzustellen, zweitens Ziele mit den jungen Menschen zu entwickeln und diese dann drittens bei der umwegreichen Zielerreichung geduldig und beharrlich fordernd und fördernd zu stützen (Klinikpsychologe). Für alle Störungsbilder seien Klarheit und Berechenbarkeit sowie nicht nur reaktiv, sondern aktiv und voraus schauend angelegte Grenzsetzungen notwendig, weil Kinder nur so „rahmende Verlässlichkeit“ erfahren könnten.
In Frage gestellt wurde von mehreren Expert/innen, ob Erklärungs- und Verhandlungspädagogik zu Kindern mit besonders komplexen Störungen passe. Gerade diese Betreuten bräuchten fast immer entscheidungsfeste Pädagog/innen. Ein Übermaß an Welterklärung und aus Verunsicherung gespeister Selbstrechtfertigungsrede sei kontraproduktiv. Erwachsene müssten Verantwortung tragen, indem sie ihre Entscheidungen fällen und vertreten. Der Begründungsrahmen sollte knapp ausfallen. Als Bewegkraft hinter einer redelastigen Entschuldigungshaltung wird eine hohe Identifikation mit den Kindern und Jugendlichen vermutet. Es fehle Abstand zu den Jungen und Mädchen, der allererst den nüchternen Blick ermöglicht. Häufig würden sich Sozialpädagog/innen bei und mit Grenzsetzungen „schlecht fühlen“. Benötigt werde Fachberatung, die Übertragungssituationen transparent mache. Solche externe Beratung werde oft aber nicht angefordert (Ärztin).
– Rahmen
Rituale müssen konsequent gelebt werden, „egal wie rigide das erscheint“ (Ärztin). „Zum Beispiel der Tagesablauf: Morgenrunde; gemeinsames Frühstück; Erledigung eines wöchentlich wechselnden Tagesdienstes; Schule; gemeinsames Mittagessen; Ruhepause; Hausaufgaben; Teepause mit Imbiss; dann je nach Alter Mal- und Spieltherapie, Bewegungsangebote usw.; abends: Freiraum für Spiel, ab 17.00 aber auch sukzessive eine Tendenz zum Ruheprogramm; Abendbrot; Abendauswertung („Worüber habe ich mich heute gefreut? Wem habe ich das zu verdanken – vielleicht gar mir?“); Abendritual: vorlesen o.ä. Für die Älteren: TV; PC; Freiraum; Disco – aber alles mit festen Regeln.
Systematisch, konsequent, verlässlich – das Immer-Wieder gibt Sicherheit durch Berechenbarkeit“ (Ärztin).
Aus Psychiatrie-Sicht werden zwar hochstrukturierte Settings mit engmaschiger Betreuung benötigt. Allerdings – so eine ärztliche Leitung – werden Ebenbild-Wünsche („Jugendhilfe als Klinik „light““; „Heim als pädagogisches Krankenhaus“) den unterschiedlichen Aufgaben, Zielen und Methoden von Jugendhilfe und KJP nicht gerecht. Die Klinik stelle einen regressionsfördernden Rahmen mit geringen Selbstständigkeits- und Selbsttätigkeitsanforderungen zur Verfügung. Jugendhilfe und Pädagogik hätten realitätsnähere Aufgaben; hier müssten sich Kinder „in die Welt hinaus wagen und in und aus der Welt lernen“.
Verhaltens- und Kompetenztrainings (Konzentration, Ärgermanagement, „Coolness“ …) werden als wichtige Ergänzung zur alltagsgestaltende Pädagogik einhellig gefordert. Zudem wird recht breit von Einrichtungen erwartet, dass psychiatrischer Sachverstand mobilisiert werden kann.
Zusammengefasst: Durch den Zwang zu immer kürzerer Behandlungsdauer und dem Nachfragedruck sind Kliniken noch mehr denn je auf gute Kooperation zur Jugendhilfe angewiesen. Kliniken schätzen die Arbeit in den Jugendhilfe-Einrichtungen, wobei unterschieden wird, ob Einrichtungen komplex belasteten Kindern und Jugendlichen gewachsen sind oder nicht. In der Regel sieht die Klinikseite hohes Engagement bei den Jugendhilfe-Mitarbeiter/innen. Die Grenzen von Pädagogik in der Jugendhilfe werden durchaus kontextualisiert. Kritische Sichten werden ggf. an engführende strukturelle Bedingungen von stationären Jugendhilfesettings gebunden geäußert.
Allerdings sind manche Einrichtung und ein Teil der Mitarbeiter/innen aus psychiatrischer Sicht mit schwer gestörten Kindern und Jugendlichen strukturell, konzeptionell und von der Qualifikationsseite überfordert. Die Kritik möchte ich in folgende Entwicklungserfordernisse überführen:
a. Die durchschnittlichen Verfahren von Fallbesprechung werden für junge Menschen mit komplexen Störungen als nicht hinreichend erachtet. Ergänzende Zugänge des biographischen, psycho- und familiendynamischen Fallverstehens sind aus KJP-Sicht zwingend. Selbst- und Fallreflexion müssten durch „zweite Ebenen“ jenseits der Teamarbeit abgesichert werden. Daraus sollten klare, für alle Fachkräfte verbindliche Betreuungskonzepte resultieren.
b. Vermisst werden hier und dort hinreichende Qualifizierungskonzepte als Teil von Personalentwicklung und Qualitätssicherung. Hier ist das Planungsverhalten von Leitung gefragt.
c. Differenzierte Spezialangebote sollten ausgebaut werden.
d. Reserven werden darin gesehen, die Versäulung zwischen Hilfeformen und die relative Starrheit von Hilfekonzepten zu mildern bzw. aufzuheben („mitwachsende Maßanzüge“). „Stand by“-Ergänzungsmodule (Intensivbetreuung, Auszeit, Schulbegleitung …) sollten einrichtungsintern umgehend verfügbar sein.
e. Unabgestimmte Systemwechsel mit der Konfrontation durch vollendete Tatsachen sind nach Möglichkeit zu minimieren, was voraus setzt,
– eigene flexible Lösungen in der Jugendhilfe zu entwickeln.
– die Verfahrensqualität des Wechsels auf Zeit zu steigern (Information, Präsenzzeiten in der Klinik, aufmerksam gestaltete Rückkehr, Einbindung von Einrichtungsgruppe, Aktivierung der Eltern …).
Untersuchungsbereich D „Kooperation“
Durch geteilte Klientel prallen in Kooperationen Berufskulturen, Fachsprachen, Abgrenzungsinteressen aufeinander. Die Befürchtung der Jugendhilfe, dominiert und „enteignet“ zu werden, kompliziert die ohnehin zu erbringende Ressortverzahnung bei Zuständigkeitswechsel in der Leistungs- und Kostenträgerschaft. Deshalb ist vorausschauende Strukturentwicklung zentral bedeutsam.
– Kooperation als geplantes Ensemble von Kultur und Struktur
Kooperationskulturen und strukturelle Verankerungen von Zusammenarbeit variieren an den Standorten, werden allerdings überall als relevanter Bearbeitungsgegenstand anerkannt. In „Good practice“-Regionen werden gerade fallübergreifende Kooperationsstrukturen mit dem Jugendamt und den Einrichtungen als positiv identifiziert. Ein flüssig funktionierender Kooperationsverbund basiere auf einer schriftlichen Kooperationsvereinbarung (zum Beispiel Jugendamt, Jugendpsychiatrischer Dienst, Kinder- und Jugendpsychiatrie). Turnusmäßige Kooperationssitzungen würden zur Prozesssteuerung und Auswertung verwendet. Fallkonferenzen nach Bedarf, in die auch Einrichtungen und Schulen einbezogen werden, sorgten für einzelfallgerechtes Vorgehen. Regionale Netze mit personeller Kontinuität (klinische Ambulanzen, niedergelassene Psychiater/innen, Einrichtungen, Jugendämter …) wurden mehrfach als günstige strukturelle Ermöglichung für direkte und indirekte Fallarbeit deklariert. Verzahnungen (fallbezogene und fallübergreifende Kontakte, zum Beispiel mit niedergelassenen Psychiater/innen und den Ambulanzen) sollten schon „vor der Krise“ gepflegt werden.
Eine der befragten Kliniken hat mit zwei Einrichtungen in der Region Kooperationsverträge geschlossen, um im Kontext von Überlastungskrisen im Heim kurzfristige Aufnahmen unter fachlichen Gesichtspunkten zu gestalten. Hier bezieht man sich auf die Mustervereinbarung des Landschaftsverbandes (2003), um einerseits Prozessqualität zu sichern und damit Ergebnisqualität zu begünstigen. Andererseits sollen Hürden gegen schlichte Abstellstrategien auf Grund dünner Personaldecke und fehlender Qualifikation in der Jugendhilfe errichtet werden. Die verabredeten Regularien sehen u.a. Begleitungsansprüche bei Ad hoc-Systemwechsel durch Jugendhilfe-Mitarbeiter/innen im Zuge des Bringens der jungen Menschen in die Klinik sowie Standards der gegenseitigen Informationsübermittlung vor. Weiter sind Evaluationsbögen von beiden Seiten zu führen, um für die jährlichen Auswertungsberatungen eine empirische Grundlage zu schaffen. Dabei werden die Ebenen der Bezugspädagog/innen in der Jugendhilfe und der Betreuungskräfte in der Klinik hier sowie der Erziehungsleitung und der Stationsärzteschaft dort unterschieden (Arzt).
– Regionale Fachsymposien und Qualifizierung des Personals (berufsgruppen- und institutionsgemischt)
Berufsgruppengemischte Veranstaltungen in verschiedenen Größenordnungen gelten als nützlich, um Kooperationszeichen zu setzen sowie fachliche Konzepte und Standards regional transparent zu machen, zu qualifizieren und zu dissemenieren.
Als mögliche Fortbildungsthemen wurden genannt: Umgang mit Regeln; professionelle Interventionen in Krisen; Auswertung der Hilfegeschichte und der wechselseitigen Beeinflussung von Problem- und Hilfesystemen; Fallverstehen mit Berücksichtigung der Familiendynamik; Einbindung der Eltern. Der Bedarf, Trainingskonzepte in die Kinder- und Jugendhilfe zu exportieren, wird als hoch definiert.
– Gegenseitige Hospitationen zwecks Kennenlernens von Konzepten und Einrichtungsalltag
Wechselseitige Anreicherungen könnten sich vor allem zwischen den Wohngruppenbereichen ergeben. Hier werden neben gemeinsamer Fortbildung auch Hospitationen punktuell als sinnvoll erachtet.
– Konzeptberatung durch Psychiatrie
Mancherorts sind psychiatrische Fachkräfte in die Angebotsentwicklung und -ausgestaltung früh eingebunden.
– Aktiv-zugehende Pflege der Kontakte von Einrichtungsseite
Als verbindungsfördernd gilt eine aktive Rolle der Einrichtungen, die bei „gemeinsamen Kindern“ (also solchen, die die Klinik kennt) „anruft, wenn es schwierig wird“. Mit diesen zugehend Unterstützung suchenden Sozialpädagog/innen der freien Träger werden gründliche Gespräche bei Systemwechsel geführt, Kinder „können, wenn Sicherungen durchbrennen, auch einmal kurzfristig und flexibel gebracht werden“ (Klinikpsychologe).
– Regionale Clearing-, Schiedsstellen
Bei Dissensproblematiken gibt es erste gute Erfahrungen mit Vermittlungsagenturen (Beispiel Landschaftsverband Rheinland-Pfalz). Clearingstellen, an die sich Kliniken, Einrichtungen und Eltern bei Dissens mit öffentlicher Jugendhilfe wenden können, – mit Funktionen wie „Fragen stellen“, „Aufsicht“, „Vermittlung“.
Ideen zur Steigerung der Verfahrensqualität von Fallkooperation wurden in folgender Weise präzisiert:
– Fachgerecht gestaltete strukturierte Übergänge
Die wechselseitige Zurverfügungstellung von Erfahrungen und Sozialdaten ist durch Schweigepflichtsentbindung möglich. Der Systemwechsel aus der Jugendhilfe-Einrichtung in die Klinik ist mit Jugendhilfe-Leistungen wie Besuchen, Platzfreihaltung, aktive Rückkehrgestaltung usw. zu verknüpfen.
– Überlappende Betreuungszeiten bei Systemwechsel
Gedacht ist einmal an periodische Aufenthalte in der Jugendhilfe-Einrichtung „auf Probe“ (gleitende Annäherung). Aus Sicht der Kliniken wäre es zudem auch wünschenswert, wenn Jugendhilfepersonal für einige Wochenstunden den im Zuge einer Krise vorübergehend gewechselten jungen Menschen im psychiatrischen Setting mitbetreut oder zumindest Kontakt hält, der auch für fachlichen Austausch genutzt werden kann.
– Fallberatungen (insbesondere bei „Drehtürklientel“)
Diese Varianten wurden in den Interviews genannt:
a. Beratungen mit befassten Mitarbeiter/innen aus beiden Systemen gemäß Falllage, ggf. regelmäßige Besprechungen (etwa monatlich); bei Bedarf werden diese Jugendlichen in der Klinik vorgestellt und können eine „Auszeit“ erhalten
b. Fallverstehen mit psychiatrischer Moderation ausschließlich für Jugendhilfe-Mitarbeiter/innen
c. Telefonberatung in prekären Situationen bzw. zu spezifischen Fachfragen
– Rückkoppelung zu fachlichen Einschätzungen
„Von Jugendhilfe-Seite erwarten wir als Psychiatrie, dass Rückkoppelungen zu unseren Empfehlungen und den tatsächlichen Verläufen stattfinden, in der Weise: „Dieses haben wir umgesetzt und haben damit folgende Erfahrungen gemacht.““ (Klinikpsychologe).
Als Erschwernis für Kooperation wurde die nicht suspendierbare Personabhängigkeit genannt. Zudem wurde der Prozesse des Sich-Entwickelns betont. Kooperation kann nicht verfügt und „gemacht“ werden. „Vertrauensaufbau braucht eben seine Zeit“ (Klinikpsychologe). Die Kultur der Zusammenarbeit bedarf nach Aussagen aller Befragten allerdings ständiger Pflege. Das ist in der Wahrnehmung der Kliniken nicht mit der Mehrzahl der Einrichtungen eines Versorgungsgebietes zu leisten. Kurz: Auf Grund der Arbeitsbelastungen in den Kliniken gilt eine aufwändige „Breitband-Kooperation auf Vorrat“ als illusorisch. Stattdessen setzt man eher auf den gezielten Ausbau von Kooperationen mit Schwerpunktpartnern.
Schließlich will ich noch einige Ermöglichungsbedingungen für Kooperation aus den Befragungsergebnissen herausfiltern:
a. Persönliches Kennenlernen der Komplementärpartner (Aufbau von Vertrauen durch Kommunikation)
b. Wissenssteigerung, Informationsgewinne zum Beispiel zu Arbeitsstrukturen, Aufgabenverständnissen und Angebotsprofilen der Einrichtungen (durch Fachtage und institutionalisierte Gremien)
c. Einnahme eines Systemblicks, wodurch Handlungszwänge und Grenzen der Komplementärpartner durchschaubar werden: Wechselseitige Fehleinschätzungen und Überforderungen durch „unmögliche Erwartungen“ können gemindert werden. So entstehen günstige Grundlagen für die Wahrnehmung und ggf. auch Anerkennung der Leistungen im anderen System. – Frühzeitig mit allen Beteiligten (Eltern, Betreuer, Ämter) nach gemeinsamen Wegen suchen
d. Langfristige Perspektiven einnehmen
e. Verabredungen verschriftlichen (strukturell; Fall): Damit werden Leistungen der Partner sozusagen einforderbar.
IV. Bilanz: Passende Angebote für Kinder zwischen den Systemen – Herausforderung Kooperation
Freigang (1999, vgl. Wehner 2002) urteilt, dass Anfragen von Heimen u.ä. an Kliniken nur selten auf Grund eines konkreten Verdachts auf eine psychische Erkrankung gestellt werden, sondern in der Regel aus Hilflosigkeit gegenüber Aggressionen und Verweigerung resultieren. Junge Menschen werden zu Grenzfällen, weil Institutionen an ihre Grenzen stoßen und daraufhin ihre Zuständigkeit begrenzen (Wolf 1995, vgl. Wehner 2002). Kinder und Jugendliche kommen auch deshalb in stationäre jugendpsychiatrische Behandlung, weil die verantwortlichen Pädagog/innen nicht weiter wissen, sich ohnmächtig erleben, unter Druck stehen, starken Affekten ausgeliefert sind. Dies vollzieht sich auf der Grundlage, geweckten Hilfe- und Halteerwartungen nicht zu entsprechen. Es handelt sich bei der Abgabe um Notlösungen, die bei der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht selten den Eindruck entstehen lassen, als Lückenbüßer und Ausfallbürge für Versäumnisse des Komplementärsystems missbraucht zu werden.
Ein Orts- und Personenwechsel in einer eskalierten Situation kann allerdings für Kinder und Jugendliche in der Krise beruhigend wirken. Einrichtungsinterne Möglichkeiten wie Ortsveränderung innerhalb des Systems, Doppeldienste, interne Auszeit sollten Priorität haben. Ergänzend könnten ambulante und letztlich aber auch stationäre psychiatrische Optionen erwogen werden.
Die Interviews zeigen, dass Krisenunterbringungen ein heikles Dissensthema zwischen Heimen und Psychiatrien sein können. Das bestätigt auch eine Studie zur Kooperation zwischen Kliniken und Kinder- und Jugendhilfe in Rheinland-Pfalz, die allerdings die Sicht der Jugendhilfe abbildet: „Oftmals scheinen die Gründe für eine Aufnahmeverweigerung oder die erklärte Nichtzuständigkeit für einen jungen Menschen seitens der Psychiatrie, für die Fachkräfte in Einrichtungen der Jugendhilfe bzw. in Jugendämtern nicht nachvollziehbar. (…) Nicht selten haben die Mitarbeiter/innen der Jugendhilfe den Eindruck, die Fachkräfte der Psychiatrie glauben ihnen nicht, dass sie wirklich an ihre Grenzen stoßen, wenn sie die Psychiatrie in Krisenfällen kontaktieren. Die sehr detaillierten Begründungen, die von der Jugendhilfe verlangt werden, erwecken den Eindruck einer „Rechtfertigung“ für den Unterstützungsbedarf“ (Darius / Hellwig in Fegert / Schrapper (Hrsg.) 2004, 508). Wenn sich Mitarbeiter/innen der Einrichtungen allerdings weiterhin als zuständig definieren (Platz frei halten, Besuche …), steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Kliniken nicht als instrumentalisiert sehen. Funktionalisierungsvorhaltungen seitens der Kliniken lassen sich für das große Thema der (teil)geschlossenen Unterbringung besonders in jenen Regionen nachweisen, in denen die Jugendhilfe nicht über freiheitsbeschränkende bzw. -entziehende Settings verfügt (vgl. Darius / Hellwig in Fegert / Schrapper (Hrsg.) 2004, 509) und wo keine fallübergreifende Kooperation stattfindet.
Die befragten Expert/innen forderten einmütig, dass die Kinder- und Jugendhilfe ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten auszubauen hat. Zwei Aufmerksamkeitsrichtungen bieten sich an:
a. Die Erweiterung der methodischen und reflexiven Handlungskompetenzen der Mitarbeiter/innen in den Einrichtungen in Bezug auf Fallverstehen, Krisenintervention, den Umgang mit fremd- und selbstgefährdendem Verhalten usw. (Fortbildung und Beratung).
b. Die Entwicklung von Spezialangeboten (als Einrichtung) oder von speziellen Settings in Regeleinrichtungen, die sich konzeptuell jenen Kindern und Jugendlichen nicht verschließen, die im Einrichtungs-Mainstream als nicht mehr tragbar eingeschätzt werden. Während die Kliniken hier ohne Wenn und Aber Ausbau fordern und ihre Mithilfe (in Form von Konzept- und Fallberatung) anbieten, wird die Etablierung von Spezialeinrichtungen in Teilen der Jugendhilfe kritisch gesehen. Als Argumente werden formuliert, dass Spezialisierung jugendhilfeinternen Verlegungs- und Abschiebungsprozessen und eine Konzentration auf symptomatische Defizite von Jungen und Mädchen bedinge. Gehofft wird, dass gerade das Fehlen von „separierenden Spezialsettings“ dazu führt, dass in den stationären erzieherischen Hilfen ein genereller Verantwortungs- und Qualifizierungsdruck entsteht, um die Betreuung der Kinder und Jugendlichen in Regelkontexten der erzieherischen Hilfen, aber auch der Kitas und Schulen sicherzustellen.
Die Ergebnisse der Forschungsprojekte des Deutschen Jugendinstituts zu diesem Themenbereich zeigen auf, dass es sinnvoll ist, die Angebotspalette von Hilfen zu differenzieren und im Einzelfall abzuwägen, anstatt eine bestimmte Hilfeform zum „Best case“ oder zur „Ultima ratio“ zu küren. Es braucht individuell zugeschnittene Konzepte und Angebote. Große Sorgfalt ist auf die Indikationsstellung sowie die Passung zwischen jungen Menschen und Maßnahme zu legen.
Insgesamt legen Aussagen einzelner Klinikexpert/innen nahe, Settings variabel zu gestalten, wobei hohe Strukturierung mit klaren Vorgaben zwar für die Mehrheit der Störungsbilder als günstiger Rahmen gesehen wird, aber Verbindlichkeitsanforderungen bzw. Nähe-Distanz-Regulationen offen, flexibel, flüssig gehalten werden sollten. Das geschickte, reflektierte Manövrieren bei Dekompensation, in Probier- und Testsituationen bzw. im Rahmen von Macht- und Anerkennungskämpfen wird in der Wahrnehmung der Klinikexpert/innen zu einer zentralen Erziehungshilfe-Kompetenz.
Die Auswertung der Befragungsergebnisse legt folgende Schlüsse unter dem Aspekt des Misslingens von Kooperation nahe (vgl. ähnliche Ergebnisse bei Jungmann 2003).
a. Ungeklärte bzw. unüberbrückbar unterschiedliche Erwartungen
Unterschwellige Erwartungen, wie der andere Dienst sein möge, können den fachlichen Kontakt engführen und grundsätzliche Abwehrreaktionen generieren. Miteinander unvereinbare Erwartungen der Kooperationspartner werden Prozesse der Zusammenarbeit behindern. Nicht immer lassen sich durch Kooperation unterschiedliche, gar unvereinbare Ziele und Erwartungen überbrücken.
b. Konfrontation mit vollendeten Tatsachen
Frühzeitige und umfassende Beteiligung wird bisweilen nicht ernst genug genommen, so dass der Kooperationspartner nur noch als Umsetzer beschlossener Maßnahmen gefragt ist. Schwierig wird es auch, wenn Komplementärpartner bei neuen Weichenstellungen nicht eingebunden werden.
c. Einseitige Zurechnung von Erfolg und Misserfolg
Besonders fatal ist es, wenn positive Wirkungen von einer Seite als eigener Erfolg reklamiert werden und negative Effekte den Partnern zugeschrieben werden.
d. Geringe Beachtung der fachlichen Autonomie
Schwierigkeiten entstehen auch, wenn gemeinsame und getrennte Entscheidungsräume nicht genügend markiert sind. In der Steigerung regiert eine Profession in die Zuständigkeitsgebiete des Nachbarn hinein. Interessen der Partner gelten gegenüber den eigenen als zweitrangig und Manövriermasse.
e. Unverbindlichkeit auf Grund von Zusätzlichkeitsdefinition
Kooperation ist in der Negativvariante etwas, was man sich gemäß des Drucks der Dringlichkeit leistet – oder auch nicht. Die Gefahr der Unverbindlichkeit erhöht sich, wenn Entscheidungen für vernetzte Arbeitsweisen nicht von der Leitungsebene der kooperierenden Institutionen getroffen und gestützt werden.
f. Unzureichende Prozessqualität, Informationsübermittlungs- und Steuerungsprobleme
Als ungünstig gilt auch, wenn keine Fallmoderation mit der Verantwortung für die Vorbereitung und Durchführung von Fallkonferenzen, Datenaufbereitung und Dokumentation zur Verfügung steht. Manchmal ist festzustellen, dass in einer interdisziplinären Fallberatung engagiert und verbindlich gearbeitet wird, die getroffenen Absprachen aber in einer Nachreflexion im eigenen Haus korrigiert werden. Solche Verhaltensweisen gefährden nicht nur die Kooperationsbereitschaft der Hilfesuchenden, sondern auch die Kooperationsmotivation der beteiligten Professionellen.
g. Forcierte Unterschiedspräsentation ohne Gemeinsamkeitsfokus
Allzu harsche und gar demonstrative Abgrenzungen können die Entwicklung von verzahnten Unterstützungsleistungen verhindern.
h. Ebenbild-Erwartungen
Gemeinsame oder auch arbeitsteilige Fallbearbeitungen sind nicht selten auch von Abbild-Wünschen (Jugendhilfe als „Mini-Klinik“; KJP als verlängerter Arm des sozialpädagogischen Systems) unterfüttert: Der andere möge so sein, wie man selbst. Wer als Messlatte die Kopie einspeist, ist mit Kooperationen tendenziell unzufrieden.
i. Unreflektierte Vorurteile, Nicht-Wissen, ungenügende Kenntnisse
Kooperation wird dadurch beeinträchtigt, dass Zuständigkeiten, Entscheidungsgrundlagen und Kontextzwänge dem jeweils anderen System, Fachdienst etc. nicht hinreichend bekannt sind. Es kommt dadurch nicht nur zu Irritationen der Profis, sondern auch zu fehlerhaften Informationen von Kindern und Eltern. Fehlen Kommunikationsforen, in denen man sich gegenseitig verständlich macht, wird es am Einzelfall immer wieder zu irreführenden Erwartung und Zuschreibungen kommen.
j. Konkurrenz
Gerade bei Verflechtungen der Aufgaben können Konkurrenzgefühle zu Entwertung und Distanzierung führen.
Wann gelingt Kooperation? Die Interviews belegen die Erfahrungen einer Kooperationsstudie KJP – Jugendhilfe in Rheinland-Pfalz. Berührungen im Kontext von Krisen junger Menschen verlaufen nicht selten problematisch. Besonders dann aber, „wenn beide Professionen nicht nur im Einzelfall (z.B. in Krisensituationen) zusammenarbeiten, sondern übergreifende Kooperationsstrukturen aufbauen, nimmt das Verständnis für die jeweils andere Disziplin zu. Es entwickeln sich realistischere Einschätzungen der eigenen sowie der Möglichkeiten und Grenzen der anderen Profession“ (Darius / Hellwig in Fegert / Schrapper (Hrsg.) 2004, 506 f.).
Dort, wo günstig kooperiert wird, trifft man zunehmend fallübergreifende Absprachen. Verfahrensstützung durch Beauftragungen, festgeschriebene Schritte, Gremien ist unverzichtbar. Kooperation benötigt aber neben struktureller Absicherung sowohl Beziehungspflege im Rahmen einer Kooperationskultur, als auch situations- und fallspezifische Aushandlung. Kooperation wird zudem nur gelingen, wenn sowohl ichbezogene Ziele als auch aufgabenbezogene Ziele gleichwertig verfolgt werden dürfen. Nutzen muss sich sowohl für die kooperierenden Personen, als auch die entsendenden Organisationen einstellen.
Als Katalysatoren für die Kooperation von Einrichtungen und Kliniken gelten:
– Räumliche Nähe von Jugendhilfe-Träger und Klinik; gemeinsames Einzugsgebiet
– Kurze Wege für Informationsaustausch und das Treffen von Absprachen
– Systematische Aufbauarbeit
– Kleine Einheiten bzw. die selben Personen als Kooperationspartner
– Stützung durch Leitung („Schirmherrschaft“; „Lokomotivenfunktion“)
– Kooperation als Binnenprinzip der Partner (besonders jene, die auch „im eigenen Laden“ kooperieren, werden mit Partnern zusammenarbeiten)
– Stimmigkeit der Hierarchieebenen bei den Kooperationsaktivitäten
– Effektive Kooperationsgremien mit Verbindlichkeit der Ergebnisse.
Erwartungen zur Kooperationsverbesserung bzw. -stabilisierung mit den Jugendämtern werden vor allem an die Entwicklung von strukturellen Standards gebunden. Damit einher gehen im günstigen Falle
– Schriftliche Kooperationsverträge
– Verfahrensstandardisierung im Sinne von Handlungsalgorithmen, zum Beispiel für Entscheidungen über „Neufälle“, Hilfekonzept und Hilfeform; Gestaltung der Übergänge; Fallführung / Co-Verantwortung …
– Transparenz des Hilfeverfahrens und der Entscheidungsgründe
– Geklärte Erwartungen aneinander; genaue Auftragsbeschreibungen
– Strukturierte Auswertungen
– Clearingstelle für Konfliktfälle
Strukturell sind Kooperationsvereinbarungen günstig (vgl. ausführlich und Beispiel gebend Landschaftsverband Westfalen-Lippe / Erdelyi u.a. 2003). Die zentralen Ziele sind dabei, mehr Handlungssicherheit und Verbindlichkeit durch Informationen über Ansprechpartner und Verfahrensabläufe herzustellen sowie regelmäßigen strukturierten Austausch zu befördern. Bei einem Systemwechsel zwischen Klinik und Einrichtung sind gemäß der Arbeitshilfe des Landschaftsverbandes u.a. folgende Schritte reflektiert zu gestalten:
a. Zunächst die eigenen Möglichkeiten ausschöpfen (in der Einrichtung z.B. Fallverstehen mit externer Hilfe, Ortswechsel, Doppeldienst, interne Auszeit …)
b. Sich frühzeitig mit dem Partner besprechen; Jugendhilfe gibt umfassende Informationen: Auffälligkeiten / Störungen; Stärken / Ressourcen; Lebensbedingungen; Annahmen / Erklärungsansätze über Verursachungszusammenhänge; erfolgte Interventionen und intendierte Wirkungen; tatsächliche Ergebnisse
c. Involvierungen reflektieren und Beteiligung organisieren (Kinder und Jugendliche der Gruppe, Sorgeberechtigte bzw. Vormund, Fachkraft im Jugendamt etc.)
d. Zuständigkeiten und Arbeitsaufträge besprechen: Vereinbarungen zur zeitlichen Dimension, Berichtspflichten, Aufgaben, Ansprechpartner/innen …
e. Termine festlegen
f. Dokumentation des Beratungs- und Entscheidungsprozesses
g. Regelmäßige Besuche während der Behandlungszeit durch Jugendhilfe
h. Gemeinsames Fallverstehen und Hilfeplangespräch mit Jugendhilfe und Psychiatrie
i. Reflektierte Rückkehrgestaltung (schneller Bericht durch Klinik, Ansprechpartner festlegen, Nachsorge organisieren, angemessener Abschied in der Klinik, Eltern einbinden, Abholung sorgsam vollziehen, Empfang arrangieren …)
Allerdings ist der Alltag von Zusammenarbeit tatsächlich verzwickter, konfliktanfälliger, lernaufwändiger, als die vielen Dafür-Plädoyers vermuten lassen. Systeme begeben sich institutionspolitisch eher in Kompetenzabwehr, „wenn es teuer oder lästig“ wird, d.h. wenn man scheitert. Institutionen arbeiten mit quasi natürlichen Ausscheidungsstrategien bei Überforderung. Zuständigkeits- und Finanzierungszergliederung auf Grund auszumachender Leistungs- und Kostenträgerschaften führt dazu, dass ressortübergreifendes Bewusstsein von Fall zu Fall erarbeitet werden muss. Letztlich gilt Kooperation als ein „Annäherungsphänomen“ (M. Schwabe): Sie klappt selten „total“. Viele Fälle entwickeln immer wieder auch „aus sich“ Dynamiken, die klare Absprachen teilweise über den Haufen werfen. Kooperation heißt in der Praxis oft, am Fall einvernehmliche Regelungen zu finden. Es geht nicht um Ein-für-allemal-Lösungen, sondern um ein kommunikatives Herausarbeiten, was jede/r Beteiligte in diesem Fall beisteuern kann. Die gesamte Erziehungshilfe genauso wie die kooperierenden Psychiatrien benötigen „die anderen“ Kompetenzen und Strukturen unabdingbar, um ihre jeweilige Arbeit zu erfolgreich zu leisten. Das ist eine günstige Voraussetzung für eine „Win-Win“-Situation.
V. Literatur
Fegert, Jörg M. / Schrapper, Christian: Handbuch Jugendhilfe – Jugendpsychiatrie. Weinheim und München 2004
Gintzel, Ulrich / Schone, Reinhold: Zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie. Münster 1990
Jungmann, Joachim: Kooperation zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. In: EREV (Hrsg.): Schwierig – schwieriger – am schwierigsten. Hannover 3 / 2003
Landschaftsverband Westfalen-Lippe / Paul Erdely u.a.: Leitfaden zur Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe. Münster 2003
Wehner, Karin: Kinder- und Jugendhilfe und Psychiatrie. In Schröer / Struck / Wolff (Hrsg.):
Handbuch der Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim / München 2002