G. Hansen: Die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern in Erziehungsheimen. Ein empirischer Beitrag zur Sozialisation durch Institutionen der öffentlichen Erziehung

Ein Beitrag mit freundlicher Genehmigung des Instituts für soziale Arbeit Münster aus der Schriftenreihe Qualifizierung der Hilfen zur Erziehung – Band III Wirkungen erzieherischer Hilfen – Metaanalyse ausgewählter Studien. Alle Bände der Schriftenreihe stehen unter www.wirkungsorientierte-jugendhilfe.de zum download bereit. Die Studie von G. Hansen soll hier exemplarisch darauf hinweisen, dass es durchaus aussagefähige Untersuchungen zur Wirkung von Erziehungshilfen gibt, an welche sich aktuelle Forschungsvorgänge anschließen.

 

Die Studie von Hansen (1994) untersucht die Sozialisationswirkungen von Heimerziehung und setzt zu diesem Zweck Befunde zur Persönlichkeitsentwicklung einer Vergleichsgruppe von 384 Kindern und Jugendlichen in Beziehung, die in ihren Familien leben. Das Alter der Untersuchungspopulation ist zwischen 9 und 14 Jahren. Die Forschung ist als „Querschnittsuntersuchung mit Längstschnittperspektive“ (a.a.O., S. 134) konzipiert. Methodisches Kernstück ist ein auf der Einzelfallebene angewendeter Fragebogen zur Persönlichkeit. Dieser enthält 91 Items mit denen 10 Persönlichkeitsdimensionen[1] abgedeckt werden. Daneben wurden biographische Daten durch Aktenanalysen sowie ergänzend Erzieherverhalten und Systemeigenschaften des Heims durch standardisierte Befragungen erhoben und ausgewertet.

 

Wirkungsdefinition

Positive Entwicklungsverläufe stellen sich aus der Perspektive der Untersuchung als Annäherung an den Entwicklungsstand von Kindern dar, die unter familiären Sozialisationsbedingungen aufwachsen. Die Ergebnisse der Studie dokumentieren zum einen die Entwicklungsverläufe, insbesondere unter Bezug auf die zuvor festgestellten Entwicklungsdefizite der untersuchten Gruppe junger Menschen in der Heimerziehung. Wirkung ist in dieser Perspektive insofern relational, da die Leistungen von Heimerziehung ebenso wie bei der Tübinger Forschungsgruppe JULE (BMFSFJ 1998) mit der Vorbelastung der untersuchten Klientel in Beziehung gesetzt werden.

 

Ergebnisse

Insgesamt wird eine überwiegend positive Einschätzung der Sozialisationswirkungen von Heimerziehung getroffen. Heimerziehung beeinflusst „weite Bereiche der kindlichen Persönlichkeit sogar positiv“ (Hansen 1994, S. 257). Dies bezieht sich auch auf Entwicklungsdefizite wie „emotional-neurotische Auffälligkeiten“, oder „Beeinträchtigungen des Selbstkonzeptes“. Als Ausnahme konstatiert Hansen jedoch, dass „psychopathisch-dissoziale“ Auffälligkeiten durch den Heimaufenthalt eher verstärkt werden. Dies ist in den Ergebnissen anhand einer Zunahme der Merkmale „aggressives Bedürfnis nach Ich-Durchsetzung“ und „fehlende Willenskontrolle“ (a.a. O., S. 183) repräsentiert. Zum anderen wurde neben dem Nachweis der sozialisierenden Wirkung von Heimerziehung der negative Einfluss eines unregelmäßigen Elternkontaktes und häufiger Heimwechsel auf die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen belegt. Im Umkehrschluss stellt der Kontakt zur eigenen Familie den „bedeutsamsten Faktor“ für alle Dimensionen der Persönlichkeitsentwicklung dar, insbesondere für die „Eigenkontrolle der Kinder“. Kontakt zur eigenen Familie umfasst neben regelmäßigem Elternkontakt auch auf die gemeinsame Unterbringung mit Geschwistern im Heim. Elternarbeit wird von den befragten Professionellen zwar als wichtig tituliert, findet jedoch kaum statt (nur in etwa 30% der Fälle als interne Elterngespräche). Hansen konstatiert die „recht starke Tendenz“ der Professionellen die Eltern – insbesondere in der Alltagspraxis – als störenden Einfluss zu betrachten (a.a.O., S. 256).

 

Viele der „harten Daten“ belegen die Benachteiligung der Jugendhilfepopulation. Lediglich 10 % der Heimkinder sehen die Eltern „immer“ an Wochenenden, 40 % von ihnen nur etwa sechsmal pro Jahr (a.a.O. S. 254). Hansens Interpretation, dass dies in der Ablehnung der Kinder durch die leiblichen Eltern begründet liegt, erscheint jedoch vorschnell und empirisch nicht belegt. Einflussgrößen wie die geographische Lage des Heims zum Herkunftsmilieu oder die Qualität der Elternarbeit spielen hier ebenfalls eine Rolle.

Problematisch erscheint die schulische Situation der Heimkinder: 40 % besuchen Sonderschulen, nur 1 % ein Gymnasium. Hingegen besuchen 23,3 % der jungen Menschen, die in ihren Familien leben das Gymnasium (a.a.O.). Die überwiegende Zahl der Heimkinder besucht externe Schulen, bei denjenigen die heiminterne Schulen besuchen, ist das Minderwertigkeitserleben signifikant erhöht (a.a.O., S. 239). Nahezu ein Drittel der Heimkinder hat bereits mindestens einmal das Heim gewechselt, wenngleich die negativen Effekte auf die Persönlichkeitsentwicklung niedriger ausfallen als erwartet (a.a.O., S. 211).

 

Einige Befunde widersprechen den theoretisch erwarteten Reformen von Heimerziehungspraxis (vgl. Wolf 1995). Die Mehrheit der untersuchten Heimkinder lebt in einem als groß klassifizierten Heim, mit mehr als 45 Plätzen. Nahezu drei Viertel der stationär untergebrachten jungen Menschen wohnt in einer Heimgruppe und hat keine Möglichkeit an dezentralen Erziehungsangeboten des Heimes zu partizipieren. In über 90 % der Heime kommen auf einen Professionellen höchstens drei Kinder (Hansen 1994, S. 256). Die Betreuungsdichte hat jedoch eindeutig keinen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung der untersuchten Heimkinder. Liegt der Wohnort des Erziehungspersonals im Heim, lässt sich ein persönlichkeitsfördernder Effekt auf Handlungs- und Willenskontrolle nachweisen (a.a.O., S. 260). Kleine Heime weisen insgesamt positivere Effekte auf die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen aus (einzige Ausnahme: Aggressivitätsausprägung). Hansen plädiert deshalb für kleine dezentralisierte Einheiten in einem größeren Verbund, um die negativen Systemeigenschaften großer Heime zu vermeiden.

Kritische Anmerkungen

Die 10 Dimensionen der Persönlichkeitsentwicklung sind bis auf drei ausschließlich an eine negative Entwicklungslogik gebunden, im Sinne der Behebung von problematischen Symptomen. Zu fragen bleibt, ob die untersuchten Dimensionen:

  • Emotionale Erregbarkeit,
  • fehlende Willenskontrolle,
  • aktiv extravertiertes Temperament,
  • aggressives Bedürfnis nach Ich-Durchsetzung,
  • schulischer Ehrgeiz,
  • Neigung zu Erwachsenenabhängigkeit,
  • Bedürfnis nach sozialer Zurückgezogenheit,
  • Selbsterleben von allgemeiner Angst,
  • Selbsterleben von Unterlegenheit gegenüber anderen,
  • Selbstüberzeugung gegenüber eigenen Meinungen,
  • Entscheidungen und Planungen,

nicht zu stark aus den funktionalen Dimensionen von Familien für das Aufwachsen abgeleitet sind. Auch könnte eine durch den Hilfeprozess erzeugte Normverdeutlichung eine von den Probanden antizipierte soziale Erwünschtheit erzeugt haben und die Ergebnisse maßgeblich verzerren. Beispielfrage: „man soll Erwachsenen gegenüber gehorsam sein“. Zu fragen ist, ob mit allen Items tatsächlich Persönlichkeitsentwicklung oder lediglich Anpassungen im Einstellungs- und Verhaltensbereich erfasst wurden.