Reimer, D.: “Als Kind werden sie da ja sowieso nicht so gefragt.”

Pflegekinder berichten im Projekt Pflegekinderstimme
von ihren Erfahrungen

„Das wurde dann einfach von den Erwachsenen entschieden, ich weiß gar nicht, wie, die haben mir nur mitgeteilt, dass ich jetzt eine neue Familie bekomme.“

„Was ich erlebt habe interessiert eigentlich keinen, die meisten haben auch Hemmungen nachzufragen.“

Kinder, die unter schwierigen Bedingungen aufgewachsen sind, berichten immer wieder davon, dass sie als Kinder wenig an für sie wichtigen Entscheidungen beteiligt wurden und auch bis heute kaum Adressaten haben, bei denen sie mit ihrer Geschichte auf Interesse stoßen. Die oben angeführten und ähnlich lautende Aussagen haben wir als Mitglieder der Forschungsgruppe Pflegekinder an der Universität Siegen in unserer ersten Studie zu Biografien von ehemaligen Pflegekindern in vielen Variationen gehört („Pilotstudie zum Aufwachsen in Pflegefamilien“ – vgl. Reimer 2008; Wolf & Reimer 2008). In den ersten Gesprächen dieser Studie mit Pflegekindern konnten wir feststellen, dass sie viel zu berichten haben, dass sie interessante, manchmal für Außenstehende erschreckende und oftmals beeindruckende Geschichten erzählen und dass wir als WissenschaftlerInnen, Pflegeeltern und MitarbeiterInnen von Sozialen Diensten aus ihren Erfahrungen lernen können.

Der nordrheinwestfälische Pflegeelternverband PAN e.V. hat die Möglichkeit, Pflegekinder zu Wort kommen zu lassen, aufgegriffen und in Kooperation mit der Forschungsgruppe Pflegekinder der Universität Siegen das von Aktion Mensch e.V. geförderte Projekt „Pflegekinderstimme“ initiiert. Mit dem Projekt wurde – wie der Name bereits andeutet – ehemaligen Pflegekindern eine Stimme gegeben. Ihre wertvollen, manchmal schmerzhaften, häufig berührenden Erfahrungen wurden im Rahmen des Projekts für Pflegeeltern und Fachkräfte nutzbar gemacht und ge­meinsam mit den Erfahrungen von Pflegeeltern in einem Buch veröffentlicht, das Arbeitsmaterialien und Empfehlungen für Pflegefamilien und Soziale Dienste beinhaltet (Reimer 2011).

Das Projekt war in drei Bereiche gegliedert:

1. Ausführliche biografische Interviews mit jungen erwachsenen, ehemaligen Pflegekindern

Im Mittelpunkt des Projekts stand die Perspektive der (ehemaligen) Pflegekinder. Dies wurde realisiert durch eine große Zahl – ca. 50 – ausführlicher, biografischer Interviews mit (ehemaligen) Pflegekindern. Die größtenteils 18-35jährigen InterviewpartnerInnen erhielten die Möglichkeit, in Gesprächen, die meist bei Ihnen zuhause stattfanden oder an einem anderen Ort Ihrer Wahl und in der Regel zwischen zwei und vier Stunden dauerten, ihre Geschichte aus ihrer ganz subjektiven Sicht zu erzählen. Die offene Interviewform ermöglichte es, alle subjektiv relevanten Ereignisse in die Erzählung einzubringen (vgl. Glinka 2003). Im zweiten Teil des Interviews wurden die InterviewpartnerInnen aufgefordert, eine Zeichnung eines Zeitstrahls von ihrer Geburt bis heute vorzunehmen, und dort alle wichtigen Ereignisse einzutragen. Zum Abschluss zeichneten die Interviewten über den Zeitstrahl eine sogenannte ‚Gute-Zeiten-schlechte-Zeiten-Linie‘, – eine Kurve, mit der die Höhen und Tiefen im bisherigen Lebensverlauf deutlich gemacht werden sollten. Die Anfertigung des Zeitstrahls regte meist nochmals ausführliche Erzählungen an und half sowohl den InterviewpartnerInnen als auch den InterviewerInnen, einen besseren Überblick über den Biografieverlauf zu bekommen. Am Ende des Gesprächs waren die ehemaligen Pflegekinder meist erstaunt über die Ausführlichkeit und Tiefe ihrer eigenen Erzählung. Häufig bedankten sie sich sogar – manchmal fast überschwänglich – bei der jeweiligen Interviewerin für ihre Bereitschaft, ihre Geschichte anzuhören. Zum Zweck der Dokumentation wurden alle Gespräche digital auf Tonträger aufgezeichnet.

2. Aufwendige Auswertung der Interviews

Die Interviewaufnahmen wurden in einem zweiten Schritt mehrmals angehört, vollständig oder in Teilen transkribiert und komplett anonymisiert. Im Anschluss wurden die Interviews nach verschiedenen Themen kategorisiert und analysiert, zum Beispiel nach Belastungen und Ressourcen (Wolf 2007; Wolf & Reimer 2008).

3. Workshops mit Pflegeeltern

Im Projektverlauf fanden insgesamt 12 Tagesworkshops mit verschiedenen Gruppen von Pflegeeltern statt. Die teilnehmenden Pflegeeltern hatten die Möglichkeit die Themen auszuwählen, bei denen es sie interessierte, was die Pflegekinder in den Interviews dazu erzählt hatten. Entsprechend wurden zu Beginn eines jeden Workshops ausgewählte Sichtweisen der Pflegekinder zum jeweiligen Thema, aus­führlich präsentiert. Nach diesem Input konnten die Pflegeeltern ihre Erfahrungen einbringen. Aus den Aussagen der Pflegekinder und dem Erfahrungsschatz der WorkshopteilnehmerInnen wurden am Ende des Workshops Empfehlungen für Pflegefamilien erarbeitet.

Die Ergebnisse des Projekts entstanden folglich aus einer Co-Produktion von Pflegeeltern und Pflegekindern.

Im Folgenden werden einige zentrale Resultate vorgestellt und Konsequenzen für die Praxis gezogen.

 

Die Pflegeeltern – die zentrale Ressource für die Pflegekinder

Den meisten InterviewpartnerInnen war die Zeit in der Pflegefamilie – auch wenn das Zusammenleben nicht immer harmonisch war – in sehr guter Erinnerung geblieben. Fast alle standen auch als (junge) Erwachsene in (bei den meisten: intensivem) Kontakt zu ihren Pflegeeltern.

Deutlich wurde, dass die Pflegefamilie im Laufe der Zeit in ganz vielen Bereichen zu einer wichtigen Ressource für die Pflegekinder geworden war. Am Anfang des Pflegeverhältnisses, so erinnern sich vor allem Kinder, die aus desolaten Herkunftsfamilien stammten, waren das besonders viele kleine wohltuende, für die Pflegeeltern oft selbstverständliche Gesten. Kusuma, die mit vier Jahren in ihre Pflegefamilie kam, berichtet:

„Dieses Gefühl überhaupt, dass jemand da ist für einen, woher sollte ich das kennen? Dass jemand morgens an mein Bett kommt und mich ganz ruhig und vernünftig weckt. Überhaupt, dass mich jemand weckt, und dass, wenn ich aufstehe, mir n Brot gemacht wird, oder dass ähm die Mama mit mir am Waschbecken steht und ähm drei Minuten lang die Zähne putzt. Das waren, das war eigentlich alles, ich musste ja vorher bei meinen leiblichen Eltern alles selber machen, ich konnte ja gar nicht Kind sein. Ich hab mich um meine Geschwister gekümmert, ich hab den Haushalt gemacht, ich bin einkaufen gegangen. Wenn ich das jetzt jemanden erzähle, ich war drei, vier Jahre alt, die packen sich an den Kopp. Und da hab ich dann halt gelernt, Kind zu sein, in Kindergarten zu gehen, dann mittags nach Hause kommen, und mit irgendwelchen Kindern zu spielen, oder Fernsehen zu kucken oder sonst irgendwas zu machen das war alles neu für mich. Ich hab selber da gemerkt, ich hab manchmal Fragen gestellt, was man schon mit drei-vier Jahren wissen müsste und da haben die halt dann auch gekuckt, dass ich so viel wie möglich mitkriege, damit meine Lücken halt wieder geschlossen werden. Ich weiß nicht, wo ich da anfangen soll, das war einfach alles, das Allerwichtigste halt, dass einfach eine Person da ist, die sich um ein kümmert.“

Diese vielen, alltäglichen Ressourcen, die manche Kinder in der ersten Zeit in der Familie gar nicht richtig annehmen und nutzen konnten, wurde bei den meisten unserer InterviewpartnerInnen zu dauerhaften Ressourcen. Viele berichten davon, dass die Pflegefamilien ihnen bis heute Stabilität, Schutz und Sicherheit vermit­teln, dass sie dort Aufmerksamkeit, Zuneigung, Akzeptanz, Respekt, gegenseitiges Vertrauen, Liebe, gegenseitige Wertschätzung, Zusammenhalt und gegenseitiges Verstehen erlebt haben, genauso wie von schönen Erlebnissen in anregend gestalteten Wohnumgebungen, Beteiligungsmöglichkeiten bei Alltagsentscheidungen und Zugang zu hilfreichen sozialen Netzwerken. In vielen Interviews machen die Gesprächspartner sehr deutlich, dass das Zusammenleben oft konfliktreich war und dass sie sich sehr wohl auch der Schwächen und Unzulänglichkeiten ihrer Pflegeeltern bewusst sind. Dennoch betonen die meisten die positiven Aspekte und sind den Pflegeeltern dankbar dafür, dass diese trotz der teilweise heftigen Auseinandersetzungen durchgehalten haben und ihnen damit diese hilfreiche dauerhafte Beziehungserfahrung ermöglicht haben.

In den Workshops waren viele Pflegeeltern stolz und gleichzeitig erstaunt über die positiven Erinnerungen der ehemaligen Pflegekinder. Überrascht waren sie vor allem, dass die Interviewten viele, für die Pflegeeltern ganz alltägliche Dinge als zentrale Ressourcen erlebten, z.B. die tägliche Versorgung, Zeit für das Kind und Zuneigung, ein Geburtstagskuchen oder andere kleine Aufmerksamkeiten. Die meisten Pflegeeltern resümierten: Viele dieser Ressourcen stellen wir unserem Pflegekind bereits ganz selbstverständlich zur Verfügung. In der Diskussion wurde aber auch deutlich: Pflegeeltern können in der von den Pflegekindern beschriebenen Form nur Ressource sein, wenn es ihnen selbst gut geht. Deshalb wurde herausgestellt, dass eine gute, auf Vertrauen gegründete Betreuung durch den Pflegekinderdienst, ein stabiles privates Umfeld, verlässliche soziale Kontakte – bei denen man sich auch mal „ausheulen“ kann, Kontakte zu anderen Pflegeeltern, die verstehen können, was man gerade erlebt, unerlässlich sind. Doch gerade daran mangelt es vielen Pflegeeltern. Oft nimmt die Aufgabe, Pflegeeltern zu sein, alle Kapazitäten in Anspruch. Zeit für soziale Kontakte bleibt wenig. Viele Pflegeeltern fühlen sich von anderen Eltern, die ausschließlich leibliche Kinder haben, unverstanden. Oft haben sie den Eindruck, an die eigenen Grenzen zu stoßen oder diese bereits überschritten zu haben. Wenn es soweit kommt, können sie nur noch begrenzt Ressource für die Pflegekinder sein. Deshalb ist es unbedingt notwendig, Ausgleichsmöglichkeiten zu finden und sich mit Menschen in ähnlichen Situationen auszutauschen. Manche Pflegeeltern aus den Workshops fanden diese Möglichkeit in örtlichen Pflegeelterngruppen, andere in Pflegeelternforen im Internet. Gemeinsame Empfehlung aller an andere Pflegeeltern war, solche Austauschmöglichkeiten gezielt zu suchen und zu nutzen.

Für die Professionellen im Feld des Pflegekinderwesens werfen sowohl die Perspektive der Kinder als auch die der Eltern Fragen und Herausforderungen auf. Es wird ganz deutlich, dass die zentralen die Entwicklung der Kinder fördernden Ressourcen nicht von den Professionellen (direkt) kommen, sondern von den Pflegeeltern. Für professionelle Arbeit im Pflegekinderwesen bedeutet das, dass es insbesondere darum gehen muss, Pflegeeltern die für sie jeweils individuell notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen, um entsprechend Ressourcen für die Kinder bereitstellen zu können.

 

Die leiblichen Kinder der Pflegeeltern – mit ihnen steht und fällt das Pflegeverhältnis

In vielen Interviews mit Pflegekindern tauchen außerdem die leiblichen Kinder der Pflegeeltern als wichtige Personen – teilweise zeitweilig noch wichtiger als die Pflegeeltern – auf.

Die leiblichen Kinder können wichtige Ansprechpartner für die Pflegekinder werden, oder ihnen im schlimmsten Fall das Leben zur Hölle machen und den Abbruch eines Pflegeverhältnisses erzwingen, wie bei Rebecca:

„Also es war ein riesen Esstisch, und ich saß meistens da und der eine Junge saß da und die anderen, die saßen dann so. Und wenn ich irgendwas wollte und ich mir dann das Essen genommen habe dann haben die Jungen angefangen mich zu beschimpfen. Und die Pflegeeltern die haben jetzt gesagt „sei leise“ oder ich weiß nicht was. Oder wir haben irgendwie oben was abgebaut, irgendwelche Schränke und haben die runter getragen und dann hat mich der eine Junge fast mit einer Latte geschlagen, einfach nur weil ich da stand und ihm entgegen gekommen bin, also die haben ganz aggressiv reagiert. Sie haben mich oft geschlagen oder sie wollten mich immer nur verarschen, sie wollten mir in die Schuhe schieben, dass ich irgendwelche Sachen kaputt gemacht hätte. Und ich mein, natürlich hab ich mich am Anfang vielleicht ein bisschen daneben benommen. Aber ich kann nicht verstehen, dass es dann vier Jahre lang oder viereinhalb Jahre lang so ein Terror dann wegen mir war. Also ich wurd immer beschimpft, immer egal wann, jeden Tag beim Essen, beim Fernsehen, wenn ich irgendwo lang gegangen bin, wenn ich draußen im Garten war, immer. Das war dann auch so, dass die Pflegemutter dann wahrscheinlich nicht mehr genau wusste, wie sie sich helfen kann. Das heißt, sie hat gesagt, ich soll eher essen und dann sollte ich mich immer schnell beeilen damit ihre Kinder auch noch was essen können oder ab acht Uhr abends durfte ich nicht mehr nach unten ins Wohnzimmer, weil dann die Jungen Fernsehen kucken sollten. Und ich durfte nicht mehr nach oben gehen, wo auch das Zimmer meiner Pflegeschwester war. Mit der bin ich sehr gut klar gekommen. Und dann durft ich da auch nicht mehr nach oben hin gehen, das waren deren Bereiche. Also ich wurd da schon so’n bisschen eingeschränkt.“

Da uns im Verlauf des Projekts die Wichtigkeit der leiblichen Kinder bewusst wurde, haben wir die Möglichkeit genutzt, auch ihre Perspektive einzubeziehen und haben einige von ihnen interviewt. Für die meisten war das Zusammenleben mit Pflegekindern eine Selbstverständlichkeit, die Pflegekinder waren weitgehend „wie normale Geschwister“. Umso schmerzhafter war es daher, wenn diese sich – insbesondere im Jugend- und jungen Erwachsenenalter anders als erwartet verhielten oder sich gar von der Pflegefamilie distanzierten. Schwierig zu verkraften war es auch, wenn Pflegekinder mit ihren Pflegeeltern stritten oder diese permanent hintergingen. Die leiblichen Kinder berichten dann von massiven Loyalitätskonflikten: Zum einen will man den Bruder oder die Schwester nicht im Stich lassen, zum anderen tut es weh, wenn die Eltern verletzt werden und den Kindern bewusst wird, dass bei diesen die Nerven blank liegen. Ein Interviewpartner berichtete im Interview von vielen Entbehrungen, die er und seine Familie wegen der vielen Pflegekinder, die in der Familie über viele Jahre aufgenommen worden waren – Kurzzeitpflege und Dauerpflege – auf sich nahm: nur wenige Urlaube, geteilte Aufmerksamkeit der Eltern, weniger finanzielle Spielräume, weniger Unterstützung der leiblichen Kinder in schulischen Belangen, auch bei gravierenden Problemen. Alle diese Entbehrungen können jedoch, so erklärt er, nicht aufwiegen, was sie gemeinsam als Familie durch die Aufnahme von Pflegekindern gewonnen haben. Insbesondere betont er in vielen Beispielgeschichten, wie stolz er auf das ist, was seine Familie geleistet hat:

Ne richtig schlimme Erfahrung war, ich hab nie nen Säugling gesehen der hässlich aussieht. Und das war bei einem richtig der Fall, der war durch den Entzug total bleich und man hat einfach gesehen dem Kind geht’s nicht gut. Und das schon bei so nem kleinen Paketchen, da stellen sich mir jetzt noch die Nackenhaare auf, also so echt. Und dann aber in diesen zwei drei Wochen dann auch zu sehen wie sich das Kind entwickelt, also ne, setzt endlich Babyspeck an. Der Junge, der hat die ersten vier fünf Tage überhaupt nicht gelacht. Kinder ohne Lachen, ich weiß nicht, das darf es niemals geben sowas. Der war immer so ernst und traurig und als der dann anfing zu lachen auch anfangen hat zu sprechen und so, das war der absolute Knaller also das macht einen aber auch selber stolz also ne, ganz klare Sache also dass man auch sieht, ja ich kann, also wir können denen hier helfen.“

Die Erfahrungen der Pflegeeltern überschnitten sich stark mit denen der Pflegekinder und der leiblichen Kinder. Als zentrales Thema diskutierten die Pflegeeltern, wie sich für sie das Zusammenleben mit einem Pflegekind vom Zusammenleben mit leiblichen Kindern unterscheidet. Leibliche Kinder sind den Eltern „vertrauter“, vieles ist selbstverständlicher, Reaktionen bekannter. Mit den Pflegekindern, so erklärten es die WorkshopteilnehmerInnen, muss erst an einer gemeinsamen Basis gearbeitet werden, die bei leiblichen Kindern quasi automatisch vorhanden ist. Aufgrund dieser vertrauten Basis mit den leiblichen Kindern haben Pflegeeltern auch schon im Vorfeld des Pflegeverhält­nisses Erwartungen an diese, die allerdings unbedingt einer Reflexion, auch von professioneller Seite, bedürfen. Durch die Aufnahme eines Pflegekindes entstehen für leibliche Kinder neue Konfliktfelder, die unbedingt Beachtung finden müssen – auch von Seiten der Professionellen. Daher lautete der Appell der Pflegeeltern an die Sozialen Dienste: Bezieht die leiblichen Kinder (mehr) in der Beratung und Betreuung der Pflegefamilie ein!

 

Die leiblichen Geschwister der Pflegekinder – sie fehlen in keiner Biografie

In vielen Interviews sind allerdings die leiblichen Geschwister der Pflegekinder noch wichtiger als die anderen Kinder in der Pflegefamilie. Tatsächlich fehlen sie in keinem (!) unserer vielen Interviews. In der Zeit in der Herkunftsfamilie sind sie oft die zentralen Bezugspersonen gewesen. Die Geschwister haben sich gegenseitig morgens geweckt, versorgt, zu Arztterminen begleitet und sind in manchen Lebensgeschichten zu überlebenswichtigen Personen geworden. Oft wurden die Kinder – für sie unerwartet und unverständlich – voneinander getrennt. Manchmal wurden sie gemeinsam untergebracht und konnten sich stützen – oder in ihrer Entwicklung gegenseitig hemmen. Egal ob eine getrennte oder gemeinsame Unterbringung stattfand: Die Geschwister bleiben füreinander wichtig und häufig sind sie die einzigen relativ konstanten Personen in diskontinuierlichen Verläufen. Im Jugend- und Erwachsenenalter dienen sie als Informanden für Fragen zur Herkunftsfamilie, als Identifikationspersonen und als Identitätsanker, insbesondere dann, wenn zu den Herkunftseltern kein Kontakt möglich oder dieser schwierig ist.

Das verweist darauf, dass die leiblichen Geschwister für Pflegekinder aus einer biografischen Sichtweise hoch bedeutsam sind.

Entsprechend ist es für Pflegekinder dramatisch, wenn leibliche Geschwister ihnen vorenthalten werden oder der Kontakt untersagt wird. Davon berichtet Chris, die über viele Jahre nichts von ihrem jüngeren leiblichen Bruder wusste:

„ich will in die Wunde reinhauen bis sie [=die leiblichen Eltern] dran verrecken, weil sowas dass sie meinen Bruder abgeschoben haben, meinen kleinen Bruder, ich mein der ist gut aufgewachsen, aber die haben dieses Prachtkind, wenn ich so ein Sohn hätte da wär ich froh, da wär ich stolz, wenn ich so einen hübschen und intelligenten Sohn hab, das ist des intelligenteste Produkt der ganzen Familie ja? Dass sie den weggegeben haben und dass sie mir ihn vorenthalten hatten diesen Menschen den mit dem ich mich identifizieren kann das ist der einzige erstgradig verwandte Mensch in meinem Leben, Daniel Busch, ja? Der mit dem ich mich identifizieren kann und diese Mischung is richtigstark, erstgradig verwandt und man kann sich komplett mit dieser Person identifizieren und das ist ein größeres Band als alles andere, und damit da verletz ich sie [=die leiblichen Eltern] und da da da frohlock ich wenn da einer von denen heult da bin ich richtig, da geht‘s mir richtig gut. Und die Mama sagt immer „oh es tut mir so leid dass du da früher so gelitten hast“ sag ich „weißte Mama, das is alles, vielleicht hab ich Angst im Dunkeln und bin halt eh generell bisschen panischer und ängstlicher im Leben aber das ist alle nichts dagegen was ihr mir angetan habt, dass ihr mir mein Bruder weggenommen habt, dass ihr mich als allerletzte davon erfahren habt lassen, das nehm ich übel, da bin ich ganz knallhart en da gibt‘s nichts zu entschuldigen und wenn man mir sacht „ok ich hab dich früher geschlagen und allein gelassen und du hattest Hunger“ und so, da sag ich „Mama du warst jung, ich will auch keine Kinder im Moment und eh du hast mich auf die Welt gebracht, alle Achtung, aber dass du mir mein Bruder weggenommen hast“ da da da bin ich ganz rigoros und da verletz ich sie bis an ihr Lebensende damit und das das wird nie enden ich werde sie so foltern damit, das kannste dir nicht vorstellen, den räche ich, der wurde abgeschoben und das find ich unmöglich.“

In den Workshops waren viele Pflegeeltern erstaunt und gleichzeitig verunsichert über die wichtige Bedeutung, die die Pflegekinder ihren leiblichen Geschwistern einräumten. Sie stellten sich die Frage, was das für Pflegeeltern konkret bedeuten könnte. Gemeinsam wurden anhand der Ausführungen der Pflegekinder Empfehlungen für Soziale Dienste und Pflegeeltern erarbeitet: Zum einen sollte bei einer anstehenden Fremdunterbringung sorgfältig abgewogen werden, ob die Geschwister getrennt werden können bzw. ob sie sogar getrennt werden sollten. Bei einer getrennten Unterbringung ist es erforderlich, Kontaktmöglichkeiten zu schaffen, die bei Bedarf auch begleitet werden. Darüber hinaus sollten Pflegeeltern für das Geschwisterthema sensibilisiert werden.

 

Die Herkunftseltern – der Ort an dem alles begann

Viele Pflegekinder haben eine sehr ambivalente Beziehung zu ihren leiblichen Eltern. Zum einen sind sie oft wütend und enttäuscht, wenn sie an die Geschehnisse denken, die die gemeinsam erlebte Zeit prägten. Zum anderen fühlen sie sich mit den leiblichen Eltern auf eine für sie unerklärliche Weise verbunden, versuchen sich in deren Situation hineinzuversetzen und sie zu verstehen. Besuchskontakte werden deshalb von vielen als besonders brisante Situationen erlebt: irgendwie freut man sich darauf, den Vater oder die Mutter zu sehen, irgendwie ist der Kontakt aber auch von der Angst gekennzeichnet, wieder verletzt zu werden oder an frühere Erfahrungen erinnert zu werden; von Scham, über das Auftreten und Verhalten der Eltern; von der Frage: kann ich ihn / sie eigentlich als meinen Vater / meine Mutter sehen?; und oft auch von einer Sprachlosigkeit, die einige als Ausdruck fehlender Gemeinsamkeiten deuten, andere als Angst, die wenigen gemeinsamen Augenblicke durch die falschen Worte oder Themen zu zerstören. Die meisten InterviewpartnerInnen betonen trotz aller Herausforderungen, dass sie es wichtig finden, die Möglichkeit zu haben, die leiblichen Eltern kennenzulernen. So auch Dave:

„Also ich denke es ist wichtig, dass jeder seine leiblichen Eltern kennenlernt, ne? Dass jeder auch versteht oder dass man einem auch zu verstehen gibt, warum man nicht bei den leiblichen Eltern aufwachsen konnte, ne? Warum das so ist, weil ich hab mich mal mit einem unterhalten, der hat das nicht verstanden ne? Dem hat man das auch nicht erklärt und was ich ziemlich traurig finde. Jeder sollte das verstehen können oder sollte ein Recht darauf haben, das zu verstehen und es auch verstehen dürfen und es auch wissen, warum das so war. Ist auch wichtig, dass man weiß, ah darum konnte ich nicht da groß werden oder darum konnte ich nicht dahin.“

Bei diesem Verstehen geht es in erster Linie um ein emotionales Verstehen der leiblichen Eltern und deren Verhaltensweisen. Wenn Pflegekinder dies nachvollziehen können, gelingt es ihnen in der Regel auch, ihre eigene Lebensgeschichte zu verstehen und anzunehmen – was wiederum eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung einer positiven Identität darstellt.

Von ihren Pflegeeltern erwarten Pflegekinder, dass diese die Herkunftseltern zwar realistisch sehen, also nichts beschönigen, und dennoch nicht respektlos über sie sprechen. Leyla berichtet, dass ihrer Pflegemutter das besonders gut gelungen ist, insbesondere in einer Situation, in der sie selbst sehr wütend auf ihre leibliche Mutter war:

„Vier Stunden ne drei Stunden später bin ich dann zu meinen Eltern [= Pflegeeltern] gefahren und ja bin dann bei meinen Eltern voll ausgeflippt also was heißt voll ausgeflippt also jetz nich so aggressiv oder so aber dass ich mich dann tierisch über sie aufgeregt habe und ehm (,) meine Mama hat gesehen wie schlecht es mir geht die weiß wie sehr die Person lügt die hat kein schlechtes Wort über die Frau verloren und das muss auch mal erst mal jemand schaffen und die hat die ganze Zeit noch gesagt die hat ihre Gründe dafür dass sie so is du musst sie so nehmen wie sie is dann darfst du entweder kein Kontakt mehr mit ihr haben oder aber du nimmst sie so wie sie is aber du kannst sie nicht ändern und es wird immer so sein sie wird dich immer wieder auf’s Neue verletzen und sowas und sie sieht das selber gar nicht sie hat keinmal (!) ein schlechtes Wort verloren über sie.“

In den Pflegeelternworkshops wurde deutlich, dass das Thema leibliche Eltern auch für die Pflegeeltern brisant ist. Viele ambivalente Gefühle wie Wut, Sorge, Mitleid, Neid, Unverständnis, Ekel, Angst u.v.m. lösen die Herkunftseltern bei den Pflegeeltern aus. Deshalb ist es ihnen oft nicht möglich, so differenziert und respektvoll über die Herkunftsfamilie zu sprechen, wie es für die Kinder notwendig wäre. Gemeinsam mit den Pflegeeltern wurde erarbeitet, dass Herkunftseltern (mehr und effektivere) Unterstützung brauchen – denn wenn sie stabiler werden, dient das dem Wohl der Pflegekinder; aber dass auch Pflegeeltern Unterstützung im Umgang mit den Herkunftseltern brauchen und Möglichkeiten im Rahmen von Beratung, Selbsthilfegruppen und Supervision brauchen, ihre Gefühle auszudrücken. Genauso wichtig ist es jedoch, Klarheit über das Pflegeverhältnis und seine Perspektive zu schaffen. Wenn alle Beteiligten wissen, wie es um das Pflegeverhältnis steht, können Pflegekinder und Pflegeeltern das Thema Herkunftsfamilie unbeschwerter angehen.

 

Fazit

Es lohnt sich, alle Beteiligten – die Kinder zuerst, aber auch die Pflegeeltern, (mehr) zu hören – und ihre Sichtweisen anzuerkennen. Wir konnten im Projekt Pflegekinderstimme auf diese Weise interessantes, in dieser Form einmaliges Material sammeln und daraus begründete Wissensbestände über das Erleben von Pflegekindern und teilweise auch von Pflegeeltern erarbeiten und entsprechende Empfehlungen ableiten. Mein ganz persönlicher Wunsch ist es, dass das Wissen und die Empfehlungen nicht nur – aber auch! – genutzt werden um das Pflegekinderwesen als Institution zu verändern, sondern vor allem um die Lebenssituationen von einzelnen Kindern in Pflegefamilien positiv zu beeinflussen.

 

Literatur

Glinka, H.-J., 2003: Das narrative Interview. Eine Einführung für Sozialpädagogen. Weinheim

Reimer, D., 2008: Pflegekinder in verschiedenen Familienkulturen. Belastungen und Entwicklungschancen im Übergang. ZPE-Schriftenreihe Nr. 19

Reimer, D.; 2011: Pflegekinderstimme. Arbeitshilfe zur Qualifizierung von Pflegefamilien. Düsseldorf (Hrsg. PAN e.V.)

Wolf, K., 2007: Die Belastungs-Ressourcen-Balance. In: Kruse, E./Tegeler, E. (Hrsg): Weibliche und männliche Entwürfe des Sozialen. Opladen, Farmington Hill. S. 281—292

Wolf, K.; Reimer, D., 2008: Belastungen und Ressourcen im biografischen Verlauf: Zur Entwicklung von Pflegekindern. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik 03/2008, 6. Jg., S. 226-257