Peters, F.: Welche erzieherischen Hilfen brauchen extrem handelnde Mädchen und Jungen? Kann Erziehung unter Bedingungen des Eingesperrtseins gelingen?

(Vortrag zur Fachtagung anlässlich des Ausscheidens von S. Stapf, Dresden 01.06.2007)

 

Wären diese Fragen einfach zu beantworten, würde man sie nicht (so oft) stellen – de facto bilden sie jedoch ein wiederkehrendes Thema des Jugendhilfediskurses. Man hat sich daran gewöhnen müssen, dass sich die Diskussion um GU periodisch wiederholt. Es geht offensichtlich um eine Sache, von deren Praxis wir – selbst in der Fachwelt – nicht so viel wissen. Wir sprechen oft genug von Hörensagen, und nicht von Wissen darum, was eigentlich geschieht. Aber eine Meinung dazu haben wir allzumal. Jede und jeder ( vgl. Lindenberg 2006).

 

Auffällig indes ist, dass immer dann, wenn „sich die demokratische Gesellschaft in Phasen der Depression, der politischen Unlust, der Ängstlichkeit und des Rufes nach Recht und Ordnung (befindet), … alsbald auch nach mehr geschlossenen Heimen für Kinder und Jugendliche gerufen (wird), nach Einschränkung der Finanzlast für soziale Hilfen und gleichzeitig nach einer entschlosseneren Polizei, einer Justiz, die kurzen Prozess zu machen versteht und nach sicheren Gefängnissen“ (Bäuerle 1977/1983:284) – unabhängig von der Leistungsfähigkeit der offenen Hilfen und der gegenwärtigen Heimerziehung (vgl. ebda.).

 

Beim Rufen allerdings ist es nicht geblieben: Immerhin hat es zwischen 1996 und 2006 eine Platzsteigerung von über 100% geschloss. oder fak. geschloss. Plätze, von 122 auf 260 (dies die jüngste Zahl, die in dem Bericht der Zypries-AG zur Reform der §§ 1666, 1631 genannt wird), gegeben, die sich auf 7 BL verteilen, platzmäßig allerdings zu mehr als 2/3 in BW und BY sich befinden.

 

Auch gibt es – immerhin – eine neue Studie mit dem beschönigenden Titel „Mildere Maßnahmen sind nicht möglich“ – Freiheitsentziehende Maßnahmen nach § 1631 b BGB in Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie“ von H. Permien u. Sabrina Hoops (DJI 2006). Die Studie versucht eine empirische Sicht auf die GU zu gewinnen. Keine Innensicht allerdings, wie die Verfasserinnen ausdrücklich schreiben: “ Da die Studie nur am Rande den Alltag der Einrichtungen in den Blick nehmen konnte, lassen die Projektergebnisse keine Rückschlüsse darauf zu, ob und inwieweit in der Alltagsbewältigung oder durch spezielle heiminterne Regelungen (z.B. Öffnen der Post, Mithören bestimmter Telefongespräche, Einsatz von Wachdienstpersonal) Verletzungen der Rechte untergebrachter Jugendlicher stattfinden“ (S.16).

Ich möchte – mich auf die Jugendhilfeseite beschränkend –

  1. zunächst einige Ergebnisse der Studie – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – kurz vorstellen, danach
  2. darauf eingehen, was als „extremes Handeln“ von Mädchen u. Jungen verstanden wird,
  3. den zugrunde liegenden Erziehungsbegriff extrapolieren und abschließend
  4. die These vertreten und erläutern, dass es sich beim GU-Diskurs nicht um die Frage handelt, was extrem handelnde Jugendliche brauchen, sondern um Probleme des Jugendhilfesystems selbst und in einem weiteren Sinne um Politik.

In Umkehrung eines Nohl-Worts sind es nicht die Probleme, die Kinder haben, sondern die sie dem JuHi-System machen, die zur GU führen.

 

1. Einige verstörende Ergebnisse der DJI-Studie

(alle Seitenangaben soweit nicht anders ausgewiesen aus dieser Studie):

  • Die Recherche im Verlauf der Untersuchung hat FM-Heime ermittelt, die, wie sich herausstellte, zwar schon seit Jahren freiheitsentziehend unterbringen, aber bislang in keiner offiziellen Zählung aufgetaucht sind. Es ist somit durchaus möglich, dass es noch mehr Einrichtungen gibt, die zumindest „fakultativ freiheitsentziehend“ unterbringen können (S. 23). Nicht einmal die LJÄ, die im Prinzip im Rahmen der Betriebserlaubnisse mit den Konzeptionen von Einrichtungen befasst sind, wissen, wie viele GU-Plätze es gibt…
  • Es gibt eine – auch zahlenmäßig größer werdende und auch rechtlich umstrittene – Grauzone zwischen offenen und geschlossenen Einrichtungen der JuHi, die zumindest mit zeitweiligen freiheitsentziehenden/-einschränkenden Methoden operieren (Time-Out-Räume jeglicher Couleur) (S. 28)
  • Die Kinder werden i.d.R. sehr jung aufgenommen – Mädchen im Schnitt als 14-jährige, Jungen bereits als 13-jährige. Das ist auffällig bei einer Maßnahme, die als ultima ratio gilt (Lindenberg 2006, 43).
  • Die Länder mit eigenen Plätzen für GU sind mit „sehr viel höheren Prozentanteilen mit Belegungen vertreten als Länder ohne diese Möglichkeit“ (S. 50) Nur 13% aller Kinder/Jugendlichen, die sich in GU befinden, kommen aus BL, die keine eigenen Einrichtungen haben, während 87%  aus den BL mit GU kommen. Für die BL ohne GU konnte die Zypries-Kommission „keine signifikante Verschiebung in die KJP“ feststellen (Kommissionsbericht S. 41). Die These von der Sogwirkung ist damit nicht von der Hand zu weisen bzw. mit dem Material der Studie belegbar.
  • Es gibt keine eindeutigen Indikationen für eine GU – die Autorinnen der DJI-Studie sprechen stattdessen von (einem Prozess der) Indikationsstellung, um den aktiven Prozess- und Herstellungscharakter des jeweiligen Falles zu charakterisieren. „Den befragten Experten aus JÄ, Heimen und KJPP ist meist sehr bewusst, dass in die Indikationsstellung für FM nicht nur objektivierbare Probleme der Jugendlichen … eingehen, sondern auch deren subjektive Bewertung. Vor allem wird die Zuordnung der oft sehr komplexen Problematik  zu bestimmten Maßnahmen nicht als eindeutig gesehen, sondern als abhängig von den verfügbaren Alternativen …, der fachlichen Einstellung und der Durchsetzbarkeit im JA und bei Gericht, die wiederum mit davon abhängt, ob die KJPP sich auch dafür ausspricht, und u.U. auch von dem politischen Klima“ (Permien 2005, 208). Entscheidend ist es auch, ob man zeitnah überhaupt einen GU-Platz erreichen würde.  Entscheidungen für freiheitsentziehende Maßnahmen scheinen also hochgradig von Kontingenzen, blinden Flecken, Etikettierungsprozessen, politischem Klima, persönlichen Erfahrungen der EntscheiderInnen, dem Leistungsprofil und –willen regional vorhandener Jugendhilfe etc. abzuhängen und erscheinen oft als „Negativindikation“ in dem Sinne, dass man nicht weiß, was man mit der oder dem Jugendlichen angesichts hohen erzieherischen Bedarfs machen soll. (nicht leichtfertig!)
  • Den Entscheidungskorridor für eine GU begrenzen zwei Bedingungen, die quasi immer hergestellt werden müssen: Die erste Bedingung bezieht sich auf die sog. Selbst- und Fremdgefährdung; die zweite regelmäßig an die erste gekoppelte Bedingung ist die „Nichterreichbarkeit“ der gefährdeten Jugendlichen (vgl. Permien 2005, 208).
  • Es gibt erhebliche Verfahrensfehler und eine häufig rechtsfehlerhafte Praxis in der GU (betrifft: Verfahrenspflegschaft, persönliche Anhörungen vor dem Familiengericht, Fehlen psychiatrischer Gutachten) (S.72/ S.123)
  • Die DJI-Untersuchung zeigt, dass die Fachöffentlichkeit – wie auch die Verfasserinnen der Studie selbst – nicht gerne von GU spricht: Die DJI-Studie benutzt den Begriff „FM“, den sie auf „einem Kontinuum von Maßnahmen“ verortet (S.28), an dessen Ende (oder Beginn je nach dem) dann eine Einschließung steht. Lindenberg (2006, 44) kommt auf 13 aus der Studie herausgelesene Bezeichnungen: „offen mit Freiheitsbeschränkung“; „geographisch geschlossen“; „zu bestimmten Tageszeiten geschlossen“; „fakultativ geschlossen“; „teilgeschlossen“; „stationäre intensivtherapeutische Einrichtung“; „päd. betreute Intensivgruppen“; „individuelle“, „situative“ oder „fakultative Teilgeschlossenheit“,; „engmaschige“, „schützende und beschützende Hilfe“, „verbindliche Betreuung“ ….
  • Diese Bezeichnungen kommen allerdings, Permien und Hoops zu Folge, bei den Jugendlichen nicht an. „Anstelle von `therapeutischem Milieu`, von  `individueller Teilgeschlossenheit`, von `engmaschiger Betreuung` und von `Time-Out` oder `chill-out-Räumen` (!) zu sprechen, ist bei den Jugendlichen überwiegend die Rede von `Zwang`, von  `Knast`, von `Wegschließen` und von `Iso-Zellen`. Die unmissverständlich eher negativ konnotierten Begriffe werden auf Nachfrage von den Jugendlichen auch entsprechend negativ konkretisiert“ (S. 107). Lindenberg (a.a.O., 45) folgert daraus: „Dies ist ein interessantes Ergebnis. Denn während sich etwa in einer Jugendpsychiatrie oder in einem Jugendgefängnis alle – Insassen und Mitarbeiter – darauf geeinigt haben (oder wissen), wo sie sich befinden, scheint die Wahrnehmung von Insassen und Stab in geschlossenen Einrichtungen der JuHi durchaus unterschiedlich zu sein.
  • Während die Jugendlichen dem „modern talking“ über GU im Prinzip eine Absage erteilen, gibt es für die Autorinnen der DJI – Studie – und für weite Teile der Fachwelt – GU eigentlich gar nicht mehr: Sie sprechen von einem Kontinuum mehr oder weniger freiheitsentziehender Maßnahmen und eigentlich nur noch von teilgeschlossener Unterbringung („je genauer man hinschaut, desto unschärfer wird der Begriff der Geschlossenheit“ / Permien in FORE 4/05, 207 – weil eben zunehmende Grauzonen sich entwickelt haben). Teilgeschlossen ist für Permien/Hoops die GU jedoch nur, weil die Konzepte Freigänge, Ausgänge und Lockerungen und schließlich auch Offenheit vorsehen, sofern die Untergebrachten bestimmten Verhaltenserwartungen entsprechen. Dazu Lindenberg: „Es wird durchgängig (in den Einrichtungen) ein Stufensystem angewandt, das dem Gefängnis abgelauscht ist. Doch niemand würde deshalb ein Gefängnis als teilgeschlossen bezeichnen. Völlig richtig so, denn der Dreh- und Angelpunkt des Gefängnisses ist der Einschluss – mit mehr oder weniger Lockerungen…. Das trifft ebenfalls auf die Einrichtungen der GU zu, wie die Verfasserinnen an ihrem Material nachdrücklich zeigen. Sie betrachten jedoch die Geschlossenheit nicht vom Einschluss her, sondern von den päd. motivierten Lockerungen. Darin gleichen sie dem Personal in diesen Heimen….“ (Lindenberg 2006, 45)
  • Es gibt nach wie vor – und damit will ich mich auch dem 2. Punkt, was denn „extremes Handeln“ sein könnte, nähern, deutlich geschlechtsspezifisch typisierte „Gründe“ für eine GU-Maßnahme seitens der JÄ: „Mit Ausnahme der Schulprobleme (insg. Rangplatz 2) und dem „Fehlen bzw. Verweigern“ offener erz. Maßnahmen der JuHI (insg. Rangplatz 6), bei denen die Rangplätze fast identisch sind, gibt es beachtliche geschlechtsspezifische Unterschiede … Vor allem „Prostitutionsgefährdung und sexualisiertes Verhalten“ sowie „Weglaufen“, aber auch „Selbstverletzung und Suizidneigung“ (!), „gefährdendes Umfeld“ – oft zusammengefasst als „Selbstgefährdung“ sowie „belastete Familiensituationen, Erziehungsprobleme“ werden bei Mädchen deutlich häufiger genannt als bei Jungen. Umgekehrt liegen die Jungen bei „Aggressivität“ und „Delinquenz“ sehr deutlich vor den Mädchen…“ (S. 45)
  • Bei einer differenzierenderen Betrachtung der Gründe, die gemeinhin als Einweisungsgründe gelten, erweisen sich diese aber häufig als nachvollziehbar und sinnhaftig für die betroffenen Minderjährigen. Was z.B. als „Weglaufen“ oder „Häufiges Entweichen“ als Indikation für die Notwendigkeit des Einschlusses angesehen wird, erscheint dann als komplizierter sozialer und biographischer Prozess und u.a. ja auch als Hinwendung zu bestimmten Orten und Personen (vgl. Jordan/Trauernicht 1981).
  • Schüler-Springorum (1983) ist wohl zu folgen, wenn er schreibt: „Eine emphatische Sichtung der Lebensgeschichten legt offen, dass diese Kinder durch den Kampf gegen Abhängigkeit (in Familien, Heimen, Schulen), die sie als Zwang, Erniedrigung und Demütigung erleben, graduell in Bereiche illegaler Reproduktion gedrängt werden. In dem Maße wie das Strafsystem (oder die Jugendhilfe) und seine Instanzen diese Integration durch erneute und verschärfte Zwangsmaßnahmen zu verhindern suchen, verstärkt sich für diese Kinder und Jugendlichen  die Notwendigkeit, sich im kriminellen Kleinhandel, in der Straßenprostitution, in der Drogenszene usw. umso fester zu verankern. Diese Kommunikations-, Interaktions- und Reproduktionsbereiche bieten ihnen Überlebensmöglichkeiten, die an keiner anderen Stelle mehr vorhanden sind. Die in diesen Bereichen strukturell angelegten Abhängigkeiten und Gefährdungen potenzieren indes die Auffälligkeit der betreffenden Kinder und Jugendlichen. Aufgrund dieser Auffälligkeit, gekoppelt mit dem Argument, dass `Kinder nun wirklich nicht in solche Szenen gehören`, greifen Polizei und /oder Instanzen der Jugendhilfe und Jugendgerichtsbarkeit zu immer drastischeren Zwangsmaßnahmen, an deren Ende der Einschluss (bei S-Springorum: der Strafvollzug) steht“.
  • In der Analyse von Hilfeplänen von geschlossen untergebrachten Jungen/Mädchen aber stellen Permien/Hoops fest, „überwiegen rel. stereotyp und normativ festgelegte Ziele (wieder zur Schule gehen, Sozialverhalten u. Kontakt zur Herkunftsfamilie verbessern, Abstand zu Suchtmitteln, Gewalt, Delinquenz etc. zu gewinnen), in denen überhaupt nicht auf „die geheimen Ziele und Wünsche der Jugendlichen, auf ihren `Eigen-Sinn` und die Bedeutung des abweichenden Verhaltens“ eingegangen wird, „das für die Jugendlichen vermutlich bisher eine wichtige `Überlebensstrategie` im Umgang mit negativen Gefühlen und Konflikten mit ihrem sozialen Umfeld dargestellt hat. Insofern berücksichtigen die Hilfeplanziele zumindest nicht explizit die möglichen Ambivalenzen der Jugendlichen bezüglich der von ihnen erwarteten `normalen Entwicklung`“ (Permien 2006) – an der sie ja bislang gescheitert sind, und knüpfen weder an ihren bisherigen Erfahrungen an, noch an ihren immer auch vorhandenen `ganz normalen` Wünschen. M.a.W. – die `subjektiven Hilfevorstellungen` ein für das Gelingen von Hilfen ganz entscheidender Faktor, spielen hier – im Fall von GU –  kaum oder keine Rolle.
  • Interessanterweise korrespondiert dieser Befund mit Einstellungen, die bei Fachleuten aus der JuHi – Praxis vorzufinden sind. Auf einer Expertentagung des DJI-Projekts (vgl. Permien 2006, 14ff) gab es eine AG „Wirkung von FM“, die u.a. folgende Thesen erarbeitete:
    1) Reizreduktion durch `Mauern` ermöglicht Konzentration auf sich selbst.
    2) Erwachsene müssen (endlich mal) als mächtig wahrnehmbar sein. Es müssen klare Grenzen gesetzt und Regeln mit Sanktionen durchgesetzt werden.
    Permien interpretiert diese Regeln wie folgt: „Das `Eingesperrtsein` und die anfängliche Kontaktsperre sowie die verhaltenstherapeutische Ausrichtung von FM mit strengen Regeln, die keine Ausnahme zulassen, prompten Konsequenzen und Punkteplänen, die zu Vergünstigungen und Rückstufungen führen, sollen zunächst Anpassungsleistungen bewirken …
    Langfristig sollen so Lernchancen eröffnet werden für sozial erwünschtes … Verhalten. Ihnen wird also zunächst einmal vieles aufgezwungen: Schulbesuch, Höflichkeit u. Respekt, Sauberkeit, Pünktlichkeit, geregelter Tagesablauf, Verzicht auf Drogen, Alkohol, Gewalt“. Dabei scheinen die Regeln, die die Autorin aus der Befragung von MitarbeiterInnen und Jugendlichen vermutlich sehr konkret kennt, „eher auf jüngere Kinder als auf Jugendliche abgestimmt, so als sollte damit das kompensiert werden, was sich die Jugendlichen vor der Unterbringung an unangepasstem Erwachsenenverhalten herausgenommen haben“ (Permien 2006, 15)
  • Dieses Erziehungsverständnis deckt sich mit einem, das H. Kupffer bereits 1974 in seiner Paradoxie auf den Punkt gebracht hat: pädagogisch gemeinte (Jugend-) Strafe wie öffentliche Erziehung kulminieren darin, “dass Erziehung als Disziplinierung verstanden (wird), die Ordnung garantiert und die Jugendlichen davor bewahrt, auffällig zu werden. Normalerweise soll das in der Familie geschehen. Nur wer von dieser zunächst angebotenen Chance keinen Gebrauch macht, muss es sich gefallen lassen, dass die erforderliche Disziplinierung an ihm gewaltsam nachgeholt wird“ (Kupffer 1974, 252).
  • Dass Jugendliche auf diese Zumutungen, vorsichtig ausgedrückt, ambivalent reagieren und dass dieses System zumindest teilweise Probleme verstärkt, die eigentlich gelöst werden sollten – darauf weist auch H. Permien hin, die sich ansonsten für sehr viel Verständnis dieser Praxis bemüht, müsste nachvollziehbar sein. Aus Platz- und Zeitgründen kann ich darauf nicht näher eingehen. Nur dieses: Man darf auch nach dem Lesen der neueren Ergebnisse der Forschung zu GU/FM weiterhin davon ausgehen, dass auch die “besonders Schwierigen” … in geschlossenen Gruppen nicht erfolgreicher betreut (werden)  als in anderen Hilfeformen (Ader /Schrapper 2002) und dass Erziehungserfolge im Einzelfall nicht wegen, sondern eher trotz der Geschlossenheit erzielt werden können. Die wenigen empirischen Untersuchungen zur `GU` haben gezeigt, dass die Betreuung im Zwangskontext für die Gestaltung pädagogischer Prozesse und für eine positive, gemeinschaftsfähige persönliche Entwicklung junger Menschen eher hinderlich als förderlich ist. Vereinzelte Erfolge stellten sich eher trotz, nicht wegen des geschlossenen Settings ein (Pankofer 1997).
  • Den Problemen des JuHi-Systems, die immer wieder zu den Problemfällen führen, die dann in einem komplizierten und rekonstruierbaren Prozess, den ich mit den Ergebnissen der DJI-Studie zumindest ja angedeutet habe, zu Fällen für FM werden. Ich möchte mich dabei auf Erkenntnisse der soziologischen Systemtheorie Luhmanns beziehen, auch wenn diese Perspektive vielleicht etwas fremd wirkt. Dazu möchte ich die These aufstellen, dass die Probleme der schwierigen Fälle im Wesentlichen entstehen als Folgen von Prozessen der Differenzierung und Rationalisierung.
  • Erziehung i.w.S. und die JuHi im besonderen hat es bekanntlich immer mit Unsicherheiten zu tun: in zeitlicher Hinsicht (schon die Frage: wann soll sie einsetzen, wann enden …) in sachlicher Hinsicht (was ist das Problem, was, ggfs. wie ist zu tun …) in sozialer (wer ist wie zu beteiligen, wer soll was machen usw…). Auf diese (u.a.) Schwierigkeiten der Erziehung reagiert die JuHi wie alle neuzeitlichen Organisationen mit Arbeitsteilung und Differenzierung. Ergebnis (und ja durchaus als Erfolggeschichte erlebbar) dieser Verbesserungsstrategie ist dann eine sehr ausdifferenzierte Jugendhilfelandschaft.
  • Die Funktion solcher organisatorischen Differenzierungen liegt darin, durch Vereinfachung der Situation, durch Eingrenzung dessen, was beachtet werden muss, Leistungsgewinne zu erzielen. Wenn man z.B. in einer Einrichtung nur Kleinkinder betreut, kann sich das Personal, die Programme und die Organisation darauf ausrichten. Etwas salopp ausgedrückt: „Man muss dann mit nassen Hosen, aber nicht mit pubertärem Gehabe rechnen“.
  • Ganz ohne Zweifel stecken in einer organisatorischen Differenzierung Leistungsgewinne durch die damit verbundene Spezialisierung / Ausrichtung auf bestimmte Probleme (eine scheinbare stärkere Koppelung von Problembezug und Lösungsstrategie, entsprechende Routinierungsprozesse beim Personal usw.). Aber solche Leistungsgewinne werden bezahlt mit einer Reihe von Folgeproblemen – u.a. mit „Verlegen und Abschieben“ und dem Entstehen von „Endstationen“ – wie z.B. GU-Einrichtungen (die nicht i. zeitlichen Sinne Endstationen sein müssen).
  • Wenn es andere Einrichtungen oder Dienste mit speziellen Aufgaben (oder Angeboten) gibt, liegt es nahe, davon Gebrauch zu machen, wenn ein Kind/Jugendlicher zu sehr stört (oder man nicht mehr weiter will/kann). Solche Entlastungsversuche werden natürlich nicht als solche deklariert, sondern zu vorzeigbaren Begründungen `theoretisiert`.
  • Nun sollen die im Einzelfall evtl. gegebenen Schwierigkeiten mit einem Kind und mehr noch Jugendlichen gar nicht geleugnet werden. Es kann gar keine Frage sein, dass manche Kinder u. Jugendliche in der Tat in der Lage sind, einen organisierten erzieherischen Handlungszusammenhang zum Absturz zu bringen. Trotzdem bleibt auch richtig, dass die Differenzierung des Hilfesystems Verweisungen erst produziert, weil Ausweichmöglichkeiten im System vorgehalten werden. Das organisatorisch vorgesehene Ausweichmanöver erspart der abgebenden Stelle, selbst nach Lösungen suchen zu müssen. So ersparen sich viele Einrichtungen/Dienste über Jahre hinweg Einblicke in päd. Grenzsituationen, weil sie sich immer dann ausblenden, wenn sie ernsthaft gefordert wären.
  • Diese Bemerkungen sind in keiner Weise moralisierend gemeint, und alle Beteiligten verhalten sich rational, wenn sie versuchen, ihren jeweiligen, eigenen, engeren Systembereich zu stabilisieren. Außerdem handeln die MA der abgebenden Stellen/Einrichtungen auch insofern rational, weil die Spezialeinrichtungen (GU-Einrichtungen) ihnen gegenüber privilegiert sind (mehr und besser bezahltes Personal, Spezialisten, höhere Tagessätze etc…).
  • Das Vorhandensein von `GU` stabilisiert das System der Jugendhilfe, das – weitgehend unwidersprochen – die Fälle, die für `GU` vorgesehen werden, selbst produziert (u.a. wegen mangelhafter Hilfeplanung, das Fehlen angemessener `diagnostischer Fähigkeiten`, seiner starken Spezialisierung und Differenzierung, die dazu führen, Kinder und Jugendliche, die nicht in das je vorgehaltene Setting `passen` an andere, vermeintlich geeignetere Einrichtungen oder `Spezialisten` weiter zu geben…). Sind solche Einrichtungen / Dienste vorhanden – das zeigt die Erfahrung – werden sie auch genutzt.
  • Aber auch Anbieten von GU ist rational: Differenzierung führt zur ungleichen Verteilung von Ressourcen und wer GU anbietet, bekommt ein größeres Stück vom Kuchen…

3. Und die Erziehung?

Wie die Probleme der Erziehung „richtig“ gelöst werden können, muss in jeder Zeit neu entworfen, neu begründet und neu beurteilt werden. Wäre es anders bedürfte es keiner systematisch angelegten Forschung über die Bedingungen, Grenzen und Möglichkeiten wirkungsvoller Erziehung, die sich als eigene Form von anderen Formen der Beeinflussung, Manipulation oder Unterwerfung von Personen unterscheiden lässt und unterscheiden will. Und es bedürfte nicht einer jahrhundertelangen Diskussion um die Berufsethik der Erzieher, also über das, was in der asymmetrischen, von Macht und Machtunterworfenheit gekennzeichneten päd. Konstellation zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen Erzieher und Zögling normativ erlaubt und was als Missbrauch ausgeschlossen werden soll (vgl. Radtke 2007).

 

Hinweisen, möchte ich noch auf einen entscheidenden Unterschied zwischen Erziehung und Zucht. Zucht  schränkt das Verhalten ein (s.o.), Erziehung will zu einem sozialen, sinnvermitteltem Handeln befähigen, das nicht (mehr) von Furcht geleitet wird, sondern auf nachvollziehbaren und zustimmungsfähigen Gründen  beruht.

 

Das Solches im Einzelfall auch unter Bedingungen der Geschlossenheit geschieht, vermag ich nicht zu bestreiten, aber wenn richtig ist – dass auch die “besonders Schwierigen” … in geschlossenen Gruppen nicht erfolgreicher betreut (werden) als in anderen Hilfeformen (s. Ader /Schrapper 2002) – , dann sollte man darauf verzichten; aus humanitären Gründen und aus fachlichen, denn erst wenn das Schlupfloch GU politisch geschlossen wird, ergibt sich die fachliche Notwendigkeit für die Weiterqualifizierung der anderen Hilfen. Das „Weiter so“ mit der GU auch mittels ausgeklügelterer Diagnostik und einem Mehr an verhaltenstherapeutischen Programmen scheint mir jedenfalls kein Aufbruch zu neuer Fachlichkeit.

 

Wolffersdorfs Gedankenexperiment und Empfehlung es doch mal bei gleicher Ausstattung und Finanzierung ohne Freiheitsentzug zu versuchen, ist ebenfalls nach wie vor eine Alternative wie Häbels von der IGfH aufgegriffener Vorschlag (vgl. Sozial extra 10/04), gesetzlich zu regeln, dass Minderjährige nicht nur ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben, sondern auch in Freiheit erzogen zu werden.

Literatur:

Ader, S./Schrapper, C.: Wie aus Kindern in Schwierigkeiten „schwierige Fälle“ werden. In: Forum Erziehungshilfen 8. Jg. 2002, Heft 1, S. 27-34

AG „Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“: Abschlußbericht (zit. als Bericht der Zypries-Kommission), o.J., (2007) verv. Ms.

Bäuerle, S., 1977/1983: Jugendhilfe und Sozialarbeit. Ausgewählte Vorträge und Schriften von A. Fromman / G.Haag (Hg.), Fft/M (IGfH)

Hoops, S. / Permien, H.; 2006: „Mildere Maßnahmen sind nicht möglich“. Freiheitsentziehende Maßnahmen nach § 1631 BGB in Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie, München (DJI)

Jordan, E. / Trauernicht, G., 1981: Ausreißer und Trebegänger – Grenzsituationen sozialpädagogischen Handelns, Münster

Kupffer, H., 1974: Erziehung als Strafform? Paradoxien in der Konzeption der Jugendstrafe, in: Kriminologisches Journal, H. 4/1974, S. 249 -260

Lindenberg, M., 2006: „Modern Talking“ für die Geschlossene Unterbringung, in: FORUM für Kinder und Jugendarbeit H. 4/2006, S. 43 – 46

Pankofer, S., 1997: Freiheit hinter Mauern …, Weinheim, München

Permien, H., 2006: „Es war Schocktherapie“ – Wirkungen und Nebenwirkungen freiheitsentziehender Maßnahmen aus der Sicht der Jugendlichen, in: EREV Schriftenreihe 4/2006, S. 8 – 30

Permien, H., 2005: Wie willkürlich ist die „Herstellung von Fällen für freiheitsentziehende Maßnahmen“?, in: Forum Erziehungshilfen, 11 Jg., H 4/2005, S. 206 – 210

Radtke, F.O., 2007: Wiederaufrüstung im Lager der Erwachsenen: Bernhard Buebs Schwarze Pädagogik für das 21. Jahrhundert, S. 204-242, in: Brumlik, M. (Hg.): Vom Missbrauch der Disziplin, Weinheim/Basel

Schüler-Springorum, H. u.a. 1983: Jugendkriminalität, Fft/M

Sozial extra 10/04 : Themenheft „Geschlossene Unterbringung“