Krause, H.U.: Offener Brief der IGfH an das Hessische Sozialministerium

Frankfurt am Main im Oktober 2012

Sehr geehrter Herr Minister Stefan Grüttner,

die Documenta ist erst vor wenigen Wochen zu Ende gegangen. Die weltgrößte Ausstellung moderner Kunst hatte Projekte aufgenommen, welche sich mit dem Leben und dem Leid von Kindern und Jugendlichen beschäftigte, die im Rahmen von Heimerziehung in den 50er bis 60er Jahren betreut worden waren. Diese Kunstprojekte machten deutlich, was Anstalterziehung für die Betroffenen, auch die Betreuerinnen und Betreuer bedeutet hat – nämlich, dass geschlossene Erziehungssysteme die Tendenz haben, sich von der Außenwelt zu entfernen und immer auch Unrecht und antidemokratische, ja sogar menschenverachtende Strukturen und Wirkmechanismen zu erzeugen.

Die Kunstausstellungen standen im Zusammenhang mit einer breiten Untersuchung, die durch den LWV Hessen und politisch Verantwortliche dieses Bundeslandes angestoßen wurde mit dem Titel: „Sicherung und wissenschaftliche Aufarbeitung der Akten und Dokumente zur Heimerziehung aus den Jahren 1953 bis 1973 beim Landeswohlfahrtsverband Hessen“. Mitgewirkt haben: der Hessische Städtetag, der Hessische Landkreistag, das Hessische Sozialministerium, das Hessische Kultusministerium, das Hessische Stadtarchiv, der Landeswohlfahrtsverband Hessen, die Universität Kassel, die Kunsthochschule Kassel und die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH).

Die Untersuchungen zeigen uns am Schicksal der ehemaligen Heimkinder, dass die Heimerziehung eine lange Geschichte des Einsperrens und des Freiheitsentzuges immer „zum Wohl“ des Zöglings oder Kindes hinter sich hat. Umso sensibler gilt es heute dafür zu sein, wie junge Menschen sich fühlen, wenn sie aus einem öffentlichen Kommunikationssystem ausgeschlossen und jenseits des Strafvollzuges gegen ihre Willen festgehalten werden.  

In den siebziger Jahren wurde in Hessen aus guten und bekannten Gründen die geschlossene Unterbringung abgeschafft. Nun erhalten wir die Information, dass das Bundesland Hessen wieder eine Einrichtung geplant und realisiert hat, in der Kinder und Jugendliche geschlossen untergebracht und unter diesen Umständen „erzogen“ werden sollen. Zwar wird insbesondere über die Medien verbreitet, dass es sich bei diesem Projekt um etwas ganz anderes als die alte, verworfene Zwangserziehung handelt, auch wird dauerhaft polemisiert, dass es eben für eine kleine, aber vorhandene Gruppe keine anderen Möglichkeiten als geschlossene Formen der Betreuung geben kann, doch die dieser Informationspolitik inne liegenden Programmatik ist unverkennbar mit der damaligen Argumentation vergleichbar. Mal wird von „Unverbesserlichkeit“ ausgegangen, mal von der „Nichterreichbarkeit“ dieser vermeintlichen Gruppe von Kindern. Auch wird von der angeblichen Unfähigkeit der sonstigen Jugendhilfe ausgegangen (egal ob abenteuerpädagogische Ansätze oder regelhafte Heimerziehung), besagte Kinder zu erreichen und sozusagen auf einen besseren Weg zu bringen. Die Versuche, die geschlossene Unterbringung wieder einmal pädagogisch zu rechtfertigen, scheitern aber an ihren eigenen Widersprüchen, denn einmal soll es um die Notwendigkeit des Beziehungs-aufbaus gehen, was nur durch das Einsperren zu gewährleisten wäre, andererseits wird mittlerweile wenigstens zugestanden, dass diese geschlossene Unterbringung zeitlich sehr begrenzt sein darf, auch weil hier Grundrechte in Frage gestellt werden. Eine klare Indikation für die geschlossene Unterbringung wurde mittlerweile vom Deutschen Jugendinstitut klar widerlegt. Nimmt man die rechtliche Umstrittenheit hinzu, muss man zum Schluss kommen, dass die „positiven Effekte“, die die Praxis der geschlossenen Unterbringung für sich behauptet, führt sie selbst nicht einmal – bei näherer Betrachtung – auf das Merkmal des Einsperrens zurück (Struck 2012, S. 12).

Vor diesem Hintergrund ist die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen als mitgliederstärkster Fachverband für Erziehungshilfen in Deutschland mit Sitz in Hessen (Frankfurt) entsetzt und irritiert, über die Medienberichterstattung, über die Eröffnung eines geschlossenen Kinderheimes im Main-Kinzig-Kreis, das nun im Oktober 2012 eröffnet wurde und wo ein 10-Jähriger untergebracht ist, der als Intensiv-Gewalttäter und Straftäter tituliert wird.

Dagegen gilt es zur Kenntnis zu nehmen, dass jeden Tag in dieser Bundesrepublik und auch in Hessen Kinder, die als schwer traumatisiert gelten, die von einigen Fachkräften, in öffentlichen Diskursen oder eben auch von der Politik als unerreichbar, unerziehbar beschrieben werden, durchaus positive Entwicklungswege gehen. Es gilt festzuhalten, dass in jeder Heimgruppe auch Kinder betreut werden, die ggf. auch in besagter geschlossener Betreuungsform landen würden, hätten sich nicht engagierte Pädagoginnen und Pädagogen dieser Kinder angenommen. Vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen müssen wir hervorheben, dass es tausendfach Beweise dafür gibt, dass es Kindern in ihrer Entwicklung vor allem um menschliche Zugewandtheit, sichere Beziehungen und förderliche Angebote geht, die ganz eindeutig ohne Zwangskontexte auskommen, die in ihren Wirkungen eben gerade deshalb so bedeutsam sind, weil sie auf der Grundlage zwischenmenschlicher Zuwendung und nicht auf Zwang beruhen.

All dies legt den Schluss nahe, dass es sich bei der Neueröffnung einer geschlossenen Einrichtung nicht um ein fachlich wichtiges Angebot handelt, sondern um eine rein politisch gewollte Institution, die besorgten Bürgerinnen und Bürgern zeigen soll: Wir tun was gegen die vermeintliche Bedrohung (die es objektiv immer geben wird). Wir tun etwas, gegen die in Teilen unfähige soziale Arbeit, die ohnehin viel zu viel Geld kostet. Und wir geben ein Signal an Kinder und Jugendliche, das da heißt: wer nicht hören will soll fühlen, und das ganz ohne rechtliche Klärung, ja sogar gegen bestehende rechtliche Vorgaben.

Die IGfH fordert die Landesregierung auf, die Betriebserlaubnis für diese Formen der geschlossenen Unterbringung wieder zu entziehen. Wir untermauern diese Forderung mit den Ergebnissen der Studie, die Sie selbst mit beauftragt, finanziert und an der Sie teilgenommen haben. Wir belegen diese Forderung mit den vielfachen Erfolgen moderner, heutiger Heimerziehung und mit den positiven Lebensgeschichten zehntausender Kinder und Jugendlicher, die unter angemessenen, humanen Bedingungen ihr Leben gestalten.