H. Leitner: Kinderschutz als gesetzlicher Auftrag

 

1. Zum gesetzlichen Rahmen

 

Woraus ergibt sich der gesetzliche Schutzauftrag für Kinder und hat sich dieser Schutzauftrag mit der Einführung des § 8a SGB VIII grundsätzlich geändert?

 

Art. 6 Abs. 2 GG

und

§ 1 SGB VIII – Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe

 

(1)     Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.

 

(2)    Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

 

(3)     Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere

 

1.      junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,

 

2.      Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen,

 

3.      Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen,

 

4.      dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.

 

Fazit: Die Rechtslage war und ist auch ohne den § 8a SGB VIII eindeutig!

 

Was aber ist zu tun?

 

Um den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung zu realisieren muss der öffentliche Träger der Jugendhilfe mit den freien Trägern von Angeboten, Diensten und Einrichtungen Vereinbarungen abschließen, um sicher zu stellen, dass deren Fachkräfte den Schutzauftrag entsprechend der Verpflichtungen für den öffentlichen Träger wahrnehmen.

 

Der Schutz von Kindern, die vernachlässigt, misshandelt oder missbraucht werden war und ist der gesetzliche Auftrag des Jugendamtes. Er ist aber auch eine Aufgabe von Einrichtungen und Institutionen, die von Kindern besucht werden. Kinderschutz liegt nicht zuletzt in der Verantwortung von allen Bürgerinnen und Bürgern, die um gefährdete Kinder in Ihrer Umgebung wissen.

 

In diesem Sinne können aktiv werden:

  • Eltern, Kinder und Jugendliche, die sich in einer familiären Krise befinden und Unterstützung suchen
  • Personen, welche in ihrem privaten und beruflichen Umfeld Kinder in einer Notsituation erleben.

In diesem Sinne müssen aktiv werden:

  • Personen, welche in ihrem beruflichen Kontext Kinder in einer Notsituation erleben und / oder Kenntnis davon erhalten; im engeren Sinne der heutigen Betrachtung alle Fachkräfte der Jugendhilfe – hoheitlich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes in der Umsetzung der gesetzlich bestimmten staatlichen „Wächterfunktion“.

 

Was aber ist genau der gesetzliche Kinderschutzauftrag für die Fachkräfte der Jugendhilfe?

  • Eltern bei der gewaltfreien Erziehung ihrer Kinder zu unterstützen,
  • bei Vernachlässigung, körperlichen, seelischen und sexuellen Übergriffen einzuschreiten und
  • Kinder in ihren Bedürfnissen wahrzunehmen und zu schützen.

Wenn denn um den rechtlichen Rahmen des Kinderschutzes bisher alles eindeutig bestimmt war, warum dann die Einführung eines gesonderten Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung mit dem § 8a SGB VIII?

 

Mit der Einführung des § 8a SGB VIII erfolgt die herausgehobene Verantwortung des Jugendamtes zur Sicherung des Kindeswohls und damit die Präzisierung des Schutzauftrages im Sinne von Mindeststandards. Diesbezüglich wird über das Gesetz verbindlich bestimmt:

  • Risikoabschätzung im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte (§8a, Abs. 1)
  • dabei Einbeziehung der Personensorgeberechtigten und jungen Menschen (§8a, Abs. 1)
  • Angebot geeigneter Hilfen zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung (§8a, Abs. 1)
  • ggf. Anrufung des Familiengerichtes (§ 8a, Abs. 3)
  • Inobhutnahme bei Gefahr in Verzug (§ 8a, Abs. 3)
  • ggf. Einschaltung anderer zur Abwehr der Gefährdung zuständiger Stelle (§ 8a, Abs. 4)
  • Vereinbarung mit Trägern gemäß der Punkte 1 bis 3 § 8a insbesondere zur:
    Hinzuziehung einer insofern erfahrenen Fachkraft (§ 8a, Abs. 2)
    Information des Jugendamtes über andauernde Gefährdungen (§ 8a, Abs. 2)

 

Damit kann zusammenfassend festgestellt werden, dass sich für die Jugendhilfe im Kern drei Aufträge bestimmen lassen, einen:

  • Prüfauftrag zur Abklärung von Kindeswohlgefährdung,
  • Beratungsauftrag gegenüber den Personensorgeberechtigten, Kindern und Jugendlichen,
  • Handlungsauftrag zur Hilfegewährung.

 

Damit legt der Gesetzgeber dem Jugendamt keine neuen Aufgaben auf, sondern präzisiert diese u.a. im Sinne einer klareren Aufgaben- und Verantwortungsabgrenzung an der Schnittstelle zwischen öffentlichem und freiem Träger der Jugendhilfe und zum anderen zur Erfüllung der Aufgaben des SGB VIII erforderlichen Kooperationspartnern/innen. Diesem Umstand Rechnung tragend und Verbindlichkeiten in der Zusammenarbeit der beiden Seiten zu gewährleisten verpflichtet das Gesetz zum Abschluss von entsprechenden Vereinbarungen.

 

Trotz der Einführung des § 8a SGB VIII und der damit verbundenen Präzisierung des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung bleiben über s. g. unbestimmte Rechtsbegriffe Gestaltungsspielräume, die grundsätzlich bzw. in jedem Einzelfall neu auszugestalten sind.

 

Dies betrifft im Einzelnen:

  • Die gewichtigen Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen (§8a SGB VIII, Abs. 1, Satz 1),
  • das Geeignet- und Notwendighalten von Hilfen durch das Jugendamt (§ 8a SGB VIII, Abs. 1, Satz 3),
  • die Hinzuziehung einer insoweit erfahrenen Fachkraft (§ 8a SGB VIII, Abs. 1, Satz 1), Hilfen
  • das Hinwirken auf die Inanspruchnahme von Hilfen, wenn dies Träger von Einrichtungen und Diensten für erforderlich gehalten wird (§ 8a SGB VIII, Abs. 1, Satz 2),
  • die Information des Jugendamtes durch Träger von Einrichtungen und Diensten, falls die angenommenen Hilfen nicht ausreichend erscheinen, um die Gefahr abzuwenden (§ 8a SGB VIII, Abs. 1, Satz 2),
  • das Erforderlichhalten des Jugendamtes bezüglich des Tätigwerdens des Familiengerichtes (§ 8a SGB VIII, Abs. 3, Satz 1),
  • das Bestehen einer dringenden Gefahr und die damit verbundene Verpflichtung zur Inobhutnahme eines Kindes oder Jugendlichen (§ 8a SGB VIII, Abs. 3, Satz 2).

2. Zur inhaltlich fachlichen Ausgestaltung

 

Zur Qualifizierung der Kinderschutzarbeit bietet die Einführung des § 8a SGB VIII einen geeigneten strukturellen Rahmen fachliche Standards in einem kommunikativen Prozess zwischen öffentlichem und freien Trägern der Jugendhilfe zu entwickeln. Der Abschluss von entsprechenden Vereinbarungen setzt voraus, dass beide Seiten im eigentlichen Sinne dieses Wortes etwas miteinander Vereinbaren und nicht vordergründig durch einseitige Vorgaben, Kontrollen und/oder Auflagen Zwangskontexte erzeugt werden, die eher Abhängigkeit und Abgrenzung erzeugen als Kooperation und Netzwerkarbeit.

 

In diesem Sinne sind die gemäß § 78a ff. SGB VIII bestehenden Leistungsvereinbarungen zu qualifizieren oder gesonderte Vereinbarungen abzuschließen.

 

Um den sich aus dem § 8a SGB VIII ergebenen fachlichen und strukturellen Anforderungen an der Schnittstelle zwischen öffentlichem und freien Trägern der Jugendhilfe zu entsprechen, sollten im Rahmen dieser Vereinbarungen Aussagen zu folgenden Aspekten fixiert werden:

  • zur Aufgabenabgrenzung zwischen Jugendamt und Träger
  • zu gewichtigen Anhaltspunkten für eine Gefährdung
  • zur Risikoabschätzung und Hinzuziehung einer insoweit erfahrenen Fachkraft,
  • zur Art und Weise der Einbeziehung von Personensorgeberechtigten, Kindern und Jugendlichen,
  • zur Information des Jugendamtes durch den Träger,
  • zur Bestimmung einer dringenden Gefahr für das Wohl von Kindern und Jugendlichen,
  • zur Eignung und Qualifizierung von Mitarbeiter/innen,
  • zum Daten- und Vertrauensschutz,
  • zur fallunabhängigen Kooperation und Evaluation.

3. Aspekte des Kinderschutzes als Präventionsaufgabe

 

Der Schutz von Kindern ist eine besonders vordringliche Aufgabe von Staat und Gesellschaft. Dabei sind die gesunde geistige und körperliche Entwicklung und ihr Schutz vor Vernachlässigung und Misshandlung zunächst elementare elterliche Aufgaben.

 

Aber es gibt Eltern, die den Herausforderungen, die sich um die Geburt bzw. mit der Betreuung und der Erziehung eines Kindes ergeben nicht allein bewältigen können und/oder wollen. Es fehlen familiäre Ressourcen und Strukturen ebenso, wie ein geeignetes kompensierendes Umfeld. Hier ist eine wohnortnahe und an den individuellen Lebenslagen der Betroffenen orientierte Hilfe notwendig, damit sich ein Problem nicht zur Krise auswächst. Besonders hoch ist hier das Risiko für Säuglinge und Kleinkinder. Von Prävention zu sprechen und diesbezüglich aktiv zu werden bedeutet, sich dieser Altersgruppe zuzuwenden.

 

Präventiver Kinderschutz nach diesem Verständnis ist in erster Linie nicht Aufgabe des Allgemeinen Sozialen Dienstes des Jugendamtes und der freien Träger von Angeboten, Diensten und Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung. Diesbezüglich sind in erster Linie u.a. Träger von Angeboten, Diensten und Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge, der Kindertagesbetreuung und /oder der Familienbildung sowie die Ebene der Politik angesprochen. Prävention als Strategie zur Verhinderung von Kindeswohlgefährdung verfolgt als Ziel die Verbesserung der Zugangswege und den Ausbau insbesondere von Angeboten früher Hilfen.

Hier können als wirkungsvolle Ansätze präventiver Kinderschutzarbeit benannt werden:

  • ein strukturelles Kooperationsnetzwerk der Jugendhilfe zu Angeboten, Diensten und Einrichtungen rund um die Geburt eines Kindes,
  • die Absicherung einer optimalen ärztlichen Versorgung für alle Kinder,
  • niederschwellige Familienbildungsmaßnahmen insbesondere im Kontext der vorschulischen Tagesbetreuung,
  • fallunabhängige Kooperations- und Netzwerkarbeit um Angebote der Kindertagesbetreuung auf der Grundlage eines umfassenden Rechtsanspruches auf diese,
  • der Aufbau regionaler, insbesondere kommunikativer Netzwerke zur Absicherung eines frühzeitigen Tätigwerdens des Jugendamtes bei Anzeichen von Gewalt und Vernachlässigung,
  • die Sicherstellung der Finanzierung präventiver Angebote und Hilfen.

 

Die Aufgaben des Sozialen Dienstes des Jugendamtes und der freien Träger von Angeboten, Diensten und Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung in Bezug auf einen präventiven Kinderschutz können und sollen sich auf solche Ansätze beziehen. Dabei kann überlegt werden, in welcher Art und Weise die Kompetenzen dieses Handlungsfeldes der Jugendhilfe eingebracht werden können, um Eltern und Fachkräfte der genannten Bereiche zu begleiten und zu beraten oder ggf. im Sinne eines eigenen Handlungsauftrages umgehender tätig werden zu können.

 

4. Verfahrensregelungen zum Kinderschutz

 

Das SGB VIII sieht verschiedene Verfahrensregelungen vor, die den Kinderschutz mehr oder weniger direkt berühren. So ist mit Blick auf die Arbeit des Allgemeinen Sozialen Dienstes die Hilfeplanung nach den §§ 36 und 37 als fallspezifisches Verfahren zu nennen. Als fallunspezifische Verfahren berühren die Vereinbarungen nach §§ 78a ff. ebenfalls die Kinderschutzarbeit. Aber auch die Vorschriften zum Datenschutz gemäß §§ 65 ff. sind bei der Gestaltung spezifischer Verfahrensregelungen zum Kinderschutz zu beachten. Die grundsätzlichen fallspezifischen bzw. fallunspezifischen Verfahrensregelungen zum Kinderschutz sind dann z. B. über den in § 8a SGB VIII bestimmten Abschluss von speziellen Vereinbarungen an der Schnittstelle zwischen öffentlichem und freiem Träger der Jugendhilfe zu verhandeln. Im Rahmen der Umsetzung der Anforderungen des § 8a SGB VIII sind verschiedene Verfahrensaspekte auszugestalten, so:

  • das Verfahren zur Risikoabschätzung (§ 8a, Abs. 1, Satz 1 und Abs. 2, Satz 1);
  • das Verfahren zur Beteiligung der Personensorgeberechtigten, Kinder und Jugendlichen (§ 8a, Abs. 4, Satz 1),
  • das Verfahren einer möglichen Hilfegewährung (§ 8a, Abs. 1, Satz 3 und Abs. 2, Satz 2),
  • das Verfahren der gegenseitigen Information (§ 8a, Abs. 2, Satz 2),
  • das Verfahren zur Anrufung des Familiengerichtes (§ 8a, Abs. 3, Satz 1),
  • das Verfahren der Einbeziehung anderer Leistungsträger (§ 8a, Abs. 4, Satz 1).

Bei der Ausarbeitung von Verfahren zum Kinderschutz sind grundsätzlich vier Ebenen im Blick zu haben. Ausgehend von der Gesamtverantwortung des Jugendamtes geht es um:

  • jugendamtsinterne bzw. verwaltungsinterne Verfahren,
  • Verfahren zwischen öffentlichem und freien Trägern der Jugendhilfe,
  • Verfahren zwischen öffentlichem Träger der Jugendhilfe und anderen Leistungsträgern,
  • die Kenntnis von jugendhilfeunabhängigen Verfahren anderer mit Fragen des Kinderschutzes beschäftigter Personen und Institutionen.

 

5. Kinderschutz als Vernetzungsauftrag der Institutionen

Ein wesentlicher Teil des Vernetzungsauftrages lässt sich aus der Darstellung der Verfahrensregelungen zum Kinderschutz ableiten. Kurz: Die Abstimmung mit anderen Bereichen, die verantwortlich für die Betreuung und Erziehung von Kindern zeichnen, ist eine wichtige Aufgabe zur Qualifizierung der Kinderschutzarbeit im Rahmen von Jugendhilfe. Hier geht es vom Kern her um ein Besser im Miteinander.

Im Einzelnen liegen dem Vernetzungsauftrag folgende Zielsetzungen von Jugendhilfe zu Grunde:

  • Qualifizierung der eigenen Arbeit aus der Erkenntnis heraus, dass eine angemessene Bearbeitung von Kinderschutzfällen mit eigenen Kompetenzen im Verantwortungsbereich mehrerer Zuständigkeiten liegt,
  • Beitrag zur Qualifizierung der Arbeit anderer im Sinne der Bereitstellung eigener Ressourcen und Kompetenzen ohne Fallübernahme,
  • Strukturierung eines rechtzeitigen Zugangs zu kinderschutzrelevanten Informationen in Bezug auf sensible Schnittstellen als Grundlage für ein rechtzeitiges und angemessenes eigenes Tätigwerden.

 

6. Fazit

 

Bei der Qualifizierung einer ebenso präventiven wie reaktiven Kinderschutzarbeit im Sinne des gesetzlichen Auftrages geht es künftig nicht um ein mehr an Nebeneinander sondern um ein Besser im Miteinander.