Behringer, M.: SGA-Outdoor – Soziale Gruppenarbeit mit erlebnispädagogischem Schwerpunkt

„Herr Beringer, ich hasse die Natur.“ Alex (Name geändert) ist 13, als er im Jahr 2011 am ersten Outdoor-Wochenende der Sozialen Gruppenarbeit Outdoor teilnimmt und wenig begeistert. Alex liebt Computer, Technik und nun das: Schon mindestens zwei Stunden ohne Handy, weg von seinem gewohnten Umfeld, die fast neue Marken-Jeans erweist sich als wenig belastbar, die angesagten weißen Sneaker versinken gerade im Matsch. Die Motivationskurve ist knapp über Null.

Ob ihm sein Faible für Technik und moderne Medien hilft, Lösungen für seine Schwierigkeiten in der Schule und der Familie zu finden, frage ich ihn. „Nein“, Alex schüttelt den Kopf, aber das habe ja auch nichts miteinander zu tun. Genauso wenig, wie es ihm helfen würde, sich einen sicheren Schlafplatz im Wald bauen zu können oder an diesem trüben Novembertag Feuerholz für das wärmende Feuer im Tipi zu suchen. Und überhaupt, Tipi was soll denn das? „Könnt ihr euch keine vernünftige Unterkunft mit Betten leisten?“ Alex kann sich nicht vorstellen, wie ihm die Arbeit mit und in der Gruppe helfen soll, seine persönlichen Angelegenheiten zu klären. Schließlich ist keiner da, den er kennt – weder die Mitschüler, mit denen er sich ständig in die Haare bekommt, noch die Eltern, noch die Geschwister.

Alex ist einer von vielen Jugendlichen, die genau das erleben werden.

 

Was ist das „SGA-Outdoor“?

Im Jahr 2009/2010 wurde ein spezielles Konzept zur sozialen Gruppenarbeit mit erlebnispädagogischem Schwerpunkt entwickelt: „SGA-Outdoor“; seit zwei Jahren umgesetzt von der Domizil Leuchtturm gGmbH, einem überwiegend in Potsdam und dem Bundesland Brandenburg tätigen Verbund von Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen sowie einem wachsenden ambulanten Bereich. Gemeinsam bewegen sich die einzelnen Gruppen mit vier bis acht TeilnehmerInnen regelmäßig einmal im Monat für ein Wochenende in unterschiedlichen erlebnispädagogischen Handlungsfeldern in der weiten und vielfach unberührten Mark Brandenburg. Dabei werden die Kinder und Jugendlichen durch ein konstantes Team (erlebnis-) pädagogischer Fachkräfte begleitet.

Das Konzept ist auf Dauer angelegt: Für mindestens sechs Monate ist die Teilnahme verbindlich, dann beginnt ein neuer Turnus. Hier können neue TeilnehmerInnen eingegliedert werden. Ziel ist es, dass die Kinder und Jugendlichen die SGA-Outdoor für idealerweise ein Jahr (oder länger) als einen festen Bestandteil ihres Lebens annehmen und zunehmend als Raum zur Entwicklung außerhalb des alltäglichen Umfeldes nutzen. Einem „heute will ich, morgen doch nicht“ wird durch eine sorgfältige Akquise vorgebeugt; der Umgang mit Widerstand konstruktiv gestaltet. Bei Unklarheiten können vorbereitende Treffen oder eine Clearingphase zu einer klareren Haltung beitragen. Verlässlichkeit und Verbindlichkeit, auch bei den Betreuungskräften, ist ein elementarer Baustein, fördert das Vertrauen und die Bereitschaft, sich Veränderungsprozessen zu stellen. Die Transfersicherung wird durch isomorph zum Alltag gestaltete Szenarien unterstützt und zudem durch die Zusammenarbeit mit den Eltern, dem Lebensumfeld, weitere in die Hilfe involvierte Fachkräfte sowie – bei Bedarf – im Rahmen zusätzlicher Einzeltreffen gefördert.

An wen richtet sich das Angebot?

Das Konzept wurde ursprünglich für Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 12 und 18 Jahren entwickelt, die aufgrund ungünstiger Sozialisationsbedingungen emotionale und soziale Entwicklungsverzögerung haben, einer besonderen sozial-pädagogischen Unterstützung bedürfen, von den regulären ambulanten Hilfeformen nur schwer zu erreichen sind und daher Hilfebedarf im Rahmen einer Hilfe zur Erziehung haben.

Jugendliche wie Alex, der mit den Eltern nicht klarkommt, in der Schule massiv auffällt, sich mit Mitschülern prügelt und die Welt zwischen Handy, dem allgegenwertigen Internet und Computerspielen aus den Augen verliert, kaum oder keine FreundInnen hat. Kinder und Jugendliche, die in ihrer Selbstwirksamkeitserwartung häufig stark verunsichert sind und die neben Therapie und Medikamenten weitere Möglichkeiten brauchen, um neue, weniger dysfunktionale Handlungs- und Bewältigungsmuster zu entwickeln und ihre eigenen Ressourcen zu entdecken und aktiv einzusetzen.

 

Was sind die Ziele?

Das übergeordnete Ziel der Sozialen Gruppenarbeit besteht darin, die Entwicklung sozialer Kompetenzen bei einzelnen Kindern und Jugendlichen durch die Auseinandersetzung im Gruppenkontext zu fördern. Dazu zählt der Abbau von Ängsten und Vermeidungsstrategien, die Entwicklung von Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit sowie von Konflikt- und Problemlösungskompetenzen. Auch das Erfahren von Selbstwirksamkeit und die Förderung von Lebensfreude, Eigeninitiative, Kreativität und Selbstwahrnehmung. Selbstwertgefühl und  Verantwortungsbewusstsein werden durch aktives Handeln in authentischen Situationen gestärkt.

Es geht nicht um den einen besonderen Tag, einen netten, erlebnispädagogisch reizvoll konzipierten Ausflug, es geht um langsame Prozesse, die die Jugendlichen auch an ihre Grenzen bringen und gleichzeitig die Chance des persönlichen Wachstums durch Eigeninitiative und die Übernahme von Verantwortung beinhalten. Die Situation selbst und nicht das Handeln der PädagogInnen geben den TeilnehmerInnen Rückmeldung. Wer keine Lust hat, Holz zu sammeln, wird abends weder warmes Essen noch warme Hände haben. Wer eine (leistbare) Herausforderung gemeistert hat, erlebt ein (oft) neues Gefühl: Stolz – auf sich und die anderen.

So werden durch intensive, positive Erlebnisse in der Gruppe und in authentischen Situationen Erfahrungen ermöglicht, die einen Lerneffekt nach sich ziehen und die Entwicklung der Kontakt-, Begegnungs- und Beziehungsfähigkeit in Gruppen und mit Gleichaltrigen sowie die Persönlichkeitsbildung fördern.

Für den nachhaltigen Erfolg der SGA stellt die Arbeit mit den Eltern einen weiteren Baustein dar. Veränderungen in den Einstellungen der Eltern begünstigen, dass die Kinder ihre neuen Erfahrungen in der Gruppe in ihren Alltag übertragen können. Dazu können prozessbegleitende Elterngespräche und Elternrunden sowie erlebnispädagogische Unternehmungen mit Kindern und Eltern durchgeführt werden. Daneben besteht die Möglichkeit zur intensiveren Erziehungsberatung.

 

Ein Konzept kommt an

Schon nach kurzer Zeit wurde die erste Gruppe aufgrund der großen Nachfrage, aber vor allem auch der zu heterogenen Altersstruktur in zwei Untergruppen aufgeteilt. Seit Juli 2012 gibt es eine Mädchengruppe. Ab kommendem Frühjahr 2013 werden auch die Jüngsten (ab ca. 7 Jahren) in einem speziellen geschlechtergemischten Angebot integriert.

Die Mitarbeiterstruktur ist weiter gewachsen: SozialpädagogenInnen, HeilpädagogenInnen und ErzieherInnen mit einer Erlebnispädagogischen und/oder Wildnispädagogischen Zusatzausbildung und verschiedenen Fachsportlichen Qualifikationen arbeiten mit den Kindern und Jugendlichen. Je zwei MitarbeiterInnen betreuen eine Gruppe und sind primär für die individuelle prozessorientierte Durchführung der einzelnen Wochenenden zuständig. Darüber hinaus werden sie durch die Pädagogische Leitung begleitet und unterstützt.

 

Ein Jahr später

Heute, ein Jahr später, betrachten wir bei unserem letzten Wochenende vor Weihnachten Bilder aus den vergangenen Monaten. Der Jahreskreis schließt sich, und wie von selbst wird Bilanz gezogen. Stolz und nicht selten etwas erstaunt blicken Alex und die anderen zurück. Bilder zeigen Jugendliche entspannt im Gras lümmelnd… mit Ehrgeiz einen Teig knetend… konzentriert beim Angeln mit der selbstgebauten Rute… stundenlang mit Seilelementen experimentierend… unsicher beim Ausnehmen des selbstgefangenen Fisches… angespannt und ungewiss, wo die Reise auf dem selbstgebauten Floß wohl hinführen wird… verträumt am Wasser sitzend und verspielt miteinander auf der Wiese balgend… angestrengt von den anfangs ungewohnten Reflexionsrunden, der Suche nach den eigenen Zielen, dem Einhalten der eigenen Gruppenregeln und auch einigen schwierigen Momenten – und trotzdem voller Zuversicht zu einer Miniexpedition aufbrechend. Viele Schritte weiter ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse adäquat benennend, einfordernd … bereit, den eigenen Part dazu beizutragen und nicht nur auf „Die anderen“ zu verweisen, sondern vielmehr neue, eigene Handlungsmuster zu entwickeln – sich auf den Weg machend.

Es scheint, als seien es vor allem die eher einfachen Dinge und Momente, die durch ihre Isomorphie zum Alltag besondere Spuren hinterlassen haben. Bei einigen Bildern blickt mein Kollege schmunzelnd in meine Richtung und wir denken wohl beide „Ich hasse die Natur…“. Alex sitzt entspannt am Feuer, lacht mit den anderen. Irgendwie wirken sie zufrieden, als sie wie selbstverständlich pünktlich ins Bett gehen und nur noch die Frage klären wollen, von wem sie heute eine Geschichte vorgelesen bekommen.

 

Autorenangabe: Marco Beringer, Ansprechpartner & Pädagogische Leitung SGA-Outdoor; Diplom Heilpädagoge; Erlebnispädagoge, marco.beringer@domizil-leuchtturm.de

sga-outdoor@domizil-leuchtturm.de

Tel: 0331 97 92 877, Fax: 0331 23 73 986, Mobil: 0151 50 65 41 41