A. Hampe: Trau Dich, Trau Dich! Musterunterbrechende Hilfen zur Erziehung

In diesem Jahr hatte ich die Ehre und das Vergnügen des 25 jährigen Dienstjubiläums, d.h. seit einem Vierteljahrhundert arbeite ich in Berliner Jugendämtern und verfolge “hautnah” die Entwicklung der Hilfen zur Erziehung. Ich habe noch erlebt, wie Familienhelfer/innen als Honorarkräfte tätig waren, sich Träger gründeten und im Laufe der Zeit eine bunte Vielfalt von Trägern der Hilfen zur Erziehung in Berlin entstand. Zu Beginn meines Berufslebens gab es gerade noch das JWG, 1990 wurde das KJHG eingeführt, wir arbeiteteten in der Familienfürsorge, dann in den Regionalen Sozialpädagogischen Diensten. Das Jugendamt war früher untergliedert in VIII-IX Abteilungen, dann in sogenannten LUV´s (Leitungs- und Verantwortungszentren) und schließlich erfolgte die Regionalisierung im Zuge der Sozialraumorientierung.

Case Management Prinzipien wurden eingeführt, Dokumentationsverfahren ausgebaut, die Kosten-Leistungsrechnung in den Bezirken implementiert, usw. usw. Ich kann gar nicht auflisten, was sich wie in den letzten 25 Jahren alles getan hat. Durch all diese Prozesse, Umbrüche und Veränderungen zu wandeln, lehrte mich im Kern vor allem 2 Dinge: Zum einen ist es völlig egal, was sich ein Sozialpädagogischer Dienst für eine Außenhülle gibt. Immer wieder schimmert auf den neuen Schildern durch: hier geht es um “Hilfe und Kontrolle”. Und mit jeder weiteren chronifiziert-neurotischen Reglementierung durch Kinderschutzfälle wird deutlich, dass es im Zweifelsfall sogar nur um Kontrolle geht. Ich sollte kurz erläutern, wieso ich hier den Begriff “chonifiziert-neurotisch” wähle: Ich fahre jeden Tag mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Seit längerem sind diese mit Nachrichten- Informationsbildschirmen versehen. Lese ich morgens, dass ein Kind von der Polizei gerettet werden musste, denke ich, oh mein Gott, wo ist das passiert. Nicht mein Stadtbezirk? Glück gehabt. Und wer schon einmal miterlebt, welche populistische Maschinerie in Gang gesetzt wird, wenn es den eigenen Stadtbezirk (oder gfs. Träger) trifft und sich die Presse interessiert, der weiß auch um die Eskalationsschleifen, die auch noch ausgelöst werden können. Im Grunde genommen sind Sozialarbeiter/innen dann auf der sicheren Seite, wenn sie schnelle und effektive Familienoperationen durchführen: Kind retten, Wunde verbinden.

Zum anderen sollte die Arbeit – auch nach 25 Jahren – immer noch Spaß machen. Tut sie dies noch? Wenn ja, wieso? Ich darf an dieser Stelle auf den von mir favorisierten Dreiklang des ausgefüllten Berufslebens erinnern: ethisch, ästhetisch, ökonomisch. Ethisch – das ist schon durch die Soziale Arbeit im Ansatz erfüllt, ästhetisch – hier geht es um den Spaß bei der Arbeit, ja sogar um die kunstvolle Anwendung der Sozialen Arbeit, ökonomisch – schließlich, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Aber: Die teilweise schlimmen prekären Arbeitsbedingungen in der sozialen Arbeit möchte ich an dieser Stelle nicht herausstellen. Den Anspruch ethisch und ästhetisch anspruchsvolle Arbeit durchzuführen ist nicht per se gegeben. Soziale Arbeit ist nicht an sich menschenrechtswürdig. Gerade in der Jugendhilfe, in der Arbeit der Regionalen Sozialpädagogischen Dienste und in den Hilfen zur Erziehung wandeln wir auf einem Grat. Oft geht es um Eingriffe in tief verankerte bürgerliche Grundrechte, die einer genauesten Abwägung zwischen Kindes-, Eltern- bzw. Familieninteressen bedürfen. Es geht um komplexe demokratische Beteiligungsrechte und Grundhaltungen des menschlichen Miteinanders. Und auch um die Aktivierung von Selbstheilungskräften der Menschen, die durch die Sozialen Dienste begleitet werden. Bei allem, was sich somit in den letzten 25 Jahren getan hat, vieles war gut, aber nicht alles. Wer lange über die Wiesen läuft, lernt die Blumen kennen. Etwas abseits der Wege fand ich immer wieder kleinere Projekte, die meine besondere Neugier hervorrufen. Projekte, die unterschiedlich in ihrer Art, aber durch Leid und Esprit verbunden sind. Es sind systemisch arbeitende familienaktivierende Projekte, u.a. Aufsuchende Familientherapie, Familienrat, Triangel und andere stationäre Hilfen, bei denen Eltern und Kinder gemeinsam aufgenommen werden, Projekte in denen Teamsitzungen als Reflecting Teams unter Beteiligung von Jugendlichen durchgeführt werden. Wenn ich mich in der Berliner Landschaft umschaue, dann kann ich diese Projekte an 2 Händen abzählen.Solche familienaktivierende Projekte sind kein Mainstream, familienaktivierende Projekte sind noch immer Subkultur. Darin liegt ihr Charme, darin liegt ihr Leid, darin liegt mein Unverständnis. Einzelne Blüten, geprägt durch extrem engagierte Kolleginnen und Kollegen.

Durch die großen Evaluationsstudien zu den Hilfen zur Erziehung haben wir doch in den vergangenen Jahren insbesondere eines erfahren: Hilfen zur Erziehung wirken dann am besten, je intensiver die Betroffenen beteiligt werden. Davon sind wir leider teilweise noch immer weit entfernt: Hilfepläne werden nicht immer mit den Betroffenen ausgehandelt, nicht in der verständlichen Sprache der Betroffenen geschrieben – geschweige denn von ihnen selbst -, Kinder und Jugendliche werden unzureichend in den Hilfeverlauf einbezogen – es wird über sie gesprochen, nicht mit ihnen, Hilfepläne und Trägerberichte werden ins Profideutsch codiert, der Wille der Betroffenen wird nicht ausreichend exploriert usw. Die Modernisierungskräfte und das demokratische Verständnis in der Jugendhilfe stagnieren. Nein, wir waren schon einmal weiter. Hilfen zur Erziehung sind teilweise überformalisiert, stattdessen fehlt es an einer positiven kontroversen Auseinandersetzung über die Qualität und Intention sozialpädagogischer Beratung.

Familienaktivierende Hilfen zur Erziehung haben meines Erachtens zweifach musterunterbrechende Wirkung.

Einerseits gibt es eine hohe Achtsamkeit darauf, dass Betroffene nicht ihr Problem dem Hilfesystem abgeben. Durch die Abgabe wird zwar die Eintrittskarte ins Versorgungssystem gelöst, es werden aber auch die Professionellen aktiviert, Lösungen für ein Problem zu finden, welches ihnen weder gehört noch sie dadurch bedingt selber lösen können. Im ärgsten Fall führt ein Abgabemuster zu einer Eskalation in der Professionellen-Betroffenen-Beziehung, bishin zum Burn Out der Professionellen. Dem entgegen zu wirken versuchen familienaktivierende Projekte einen ganz großen Fokus auf eine gute Auftrags- und Kontextklärung zu legen und von Beginn an darauf zu achten, den Betroffenen die Verantwortung für einen Lösungsprozess zu belassen.

Gelingt es, die Vermeidung des Abgabemusters zu beachten, wirkt sich dies ganz unmittelbar auf die Struktur und den Kontext des Trägers und die Arbeit der Fachkräfte aus. Hilfen zur Erziehung werden elastisch, flexibel, Fachkräfte denken quer, professionelle Haltungen ändern sich.

Andererseits muss Kosten-Leistungsrechnung, also die finanz-strategische Kooperation zwischen Jugendamt und Trägern der Hilfen zur Erziehung anders gedacht werden. Es kann nicht darum gehen den Median zu bedienen, also den mittleren Ausgabewert einer bestimmten Form der Hilfe zur Erziehung. Unter Umständen muss eine Hilfe zur Erziehung etwas teurer sein, wenn aber dadurch erreicht wird, dass die Betroffenen intensiv beteiligt werden, in ihrer Verantwortung bleiben, ihre Handlungsmuster ändern und dadurch ein neues Handlungsniveau erreichen und auf die professionelle Unterstützung verzichten können.

Damit will ich sagen: Es ist u.U. nicht billiger, wenn ein Kind untergebracht wird, aber weder mit den Eltern gearbeitet wird, noch familiäre Ressourcen exploriert, genutzt und ausgeschöpft werden. Einiges mehr könnte möglich werden, wenn die Eltern und ihr Kind gemeinsam untergebracht werden und in dem gemeinsamen stationären Kontext heraus problematische Familienmuster verändert werden. Die Eltern bleiben in ihrer Verantwortung. Anderes Beispiel: Es ist u.U. nicht billiger, wenn ich nach den ersten beiden Familiengesprächen gleich eine Familienhilfe einsetze. Möglicherweise ergibt die Durchführung eines Familienrates vielmehr, dass der Bruder, der Onkel, die Tante, die Oma, usw. Aufgaben übernehmen können, die sonst eine Familienhilfe wahrnehmen würde.

Mich beschäftigt also die Frage, wieso die familienaktivierenden Projekte ein Leben am Wegesrand fristen. Wieso ist es nicht die Regel, dass wir sagen: Hey, ich verstehe, dass ihre Situationen Ihnen Sorgen bereitet, aber wie kommen Sie nur auf die verrückte Idee, dass ich das ändern kann? Halten Sie mich für einen Zauberer? Es ist Ihr Leben, es ist Ihre Verantwortung, Sie müssen Dinge ändern. Und ich, ich kann Sie dabei begleiten und unterstützen, aber mehr leider nicht. Ganz im Ernst, dass wir das nicht sagen, dass wir Abgabemuster bedienen, dass wir losrennen, wenn andere Menschen Probleme haben, dass wir uns erschöpfen, dass wir in unserem System (Amt, Träger), das machen was wir machen, hat größtenteils etwas mit uns zu tun. Wir sind möglicherweise eingebildet, paternalistisch, größenwahnsinnig oder aber etwas von den anderen Eigenschaften, die seit Jahrzehnten über die helfenden Berufe geschrieben werden. Aber fachlich betrachtet, geht das echt noch besser. Also, wieso macht mir die Arbeit nach 25 Jahren eigentlich Spaß? Ich stecke genauso wie alle anderen auch in meinem Sumpf, meinem System. Ich bin genau nicht besser und schlechter als alle anderen. Ich bediene meine Muster.

Aber manchmal erinnere ich mich an das Lied “Trau Dich, Trau Dich” (Grips Theater) und dann bewundere ich all die mutigen Fachkräfte, die neue Wege ausprobieren, die sich mit dem, was wir haben nicht zufrieden geben. Ich freue mich über diejenigen, die Träume haben und diese umsetzen wollen, die sich vernetzen und Dinge ausprobieren. Unvergessen der Vortrag eines betroffenen Vaters während eines Fachtages zum Familienrat, wenn er davon erzählte, wie sehr sich die Familie aktivieren konnte um ihre Probleme selbst zu lösen, seine Ehrlichkeit als er sagte, dass er uns (Profis) sowieso nicht alles erzählt hätte. Das Fachpublikum reagierte mit Standig Ovations, obwohl es anmutete, als ob der Vater (Betroffener) als so etwas wie ein Alien betrachtet wurde. Huch, ein Klient.

Ich warte sehnsüchtig auf den ersten Jugendhilfefachtag, an dem Jugendamtsmitarbeiter/innen, Fachkräfte der Hilfen zur Erziehung und Betroffene gemeinsam teilnehmen. Und das ist keine Zukunftsmusik, Jugendhilfe, schau dich um, es gibt diese Beteiligungsformen woanders längst. Die öffentliche Diskussion um den Kinderschutz dominiert, das ist hilfreich und hinderlich zugleich. Aber sie darf nicht eine fachliche und demokratische Weiterentwicklung einschränken. Wenn wir eine starke Gesellschaft wollen, dann dürfen wir die Menschen nicht depotenzieren. Ich möchte Mut machen zum Querdenken, Einmischen und zur Kontroverse. Bevor ich also zu appellativ oder gar missionarisch werde: Vieles von dem was ich hier geschrieben habe, ist seit Jahren vielfach besser in fachlichen Artikeln oder Büchern niedergeschrieben worden. Erkenntnisse gibt es genug, einzig die Umsetzung ist schwach. Aber das liegt an uns, an jeder/jedem einzelnen von uns. Wenn wir nichts verändern, wer soll es dann tun?

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. (Erich Kästner)