M. Jannicke: Wirkungsorientierte Steuerung und Partizipation – (Wie) Geht das zusammen?

  • Ausgabe 3 / 2008

 

Das sind Mitte des Jahres 2008 zwei aktuelle Pole der Debatte zur Kinder- und Jugendhilfe:

  1. Der Versuch, Angebote und Leistungen der erzieherischen Hilfen nach ihren Wirkungen zu steuern[1] und
  2. der Anspruch der kleinen und großen Bürger-/innen darauf, Art und Umfang ihrer Jugendhilfe nach ihren eigenen Bedürfnissen mitzugestalten.

Wenn wir uns die Frage stellen, ob diese Pole etwas miteinander zu tun haben und in welchem Verhältnis zueinander sie zu sehen sind, müssen wir sie zunächst einzeln genauer ansehen:

Wirkungen und Steuerung

Zur Debatte über die wirkungsorientierte Steuerung der Hilfen zur Erziehung ist zunächst festzustellen, dass man sie getrennt von der viel älteren Debatte über Wirkungen, Ergebnismessung, Effekte etc. betrachten und führen muss. Deshalb einige ganz kurze Aussagen dazu vorab:
Man weiss seit vielen Jahren mit hinreichender Sicherheit von einer relativ überschaubaren Anzahl von Faktoren, die vorhersagbar Hilfen unterstützen bzw. ihr Scheitern provozieren. Auch reproduziert praktisch jede nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland veröffentlichte Wirkungsanalyse von erzieherischen Hilfen[2] ein Verhältnis von nahe 50 % gelingenden Hilfen, ca. 25 % unverändertem Verlauf und 25 % eindeutig verschlechtertem Ergebnis – so dass man schon sehr lange nicht mehr sagen kann, Jugendhilfe – insbesondere stationäre Jugendhilfe – könne oder wolle ihre Effekte und Leistungen nicht oder zu schlecht belegen.
Wer dies trotzdem tut, offenbart entweder bestürzende Unkenntnis oder manipulative Absichten.

Ebenso wenig braucht darüber räsoniert zu werden, ob Wirkungen überhaupt gemessen und entsprechend Leistung bewertet werden sollen – schließlich ist Kinder- und Jugendhilfe ein gesellschaftlich gefordertes und finanziertes Unterfangen und als solches ganz selbstverständlich und schon immer verpflichtet, sich derlei Fragen vorzulegen und vorlegen zu lassen. Darüber hinaus gibt es (und gab es unabhängig von der jeweils gültigen Rechtsauffassung) immer schon ein Rechenschaftsverhältnis des Hilfeerbringers gegenüber dem Kind und seiner Familie. Niemandem sonst könnte doch die erste Aufmerksamkeit gehören, wenn es um die Frage geht, ob ein Kind anständig betreut und gefördert wird.

Dennoch ist es nach wie vor ….

„… sehr schwierig, zwischen einzelnen Maßnahmen und spezifischen Effekten einen eindeutigen Zusammenhang herzustellen, d.h. zu beweisen, dass dieser Effekt nur durch die Maßnahme bewirkt worden ist und dass die Maßnahme genau diesen Effekt verursacht hat. Weder das zeitliche Zusammentreffen von Maßnahme und Effekt noch der statistische (in qualitativen Studien aufgrund der geringen Fallzahl sowieso kaum zu erbringende) Beleg einer Korrelation ist ein Beweis für einen linearen Ursache-Wirkungszusammenhang.“[3]

Eine ganz kursorische Auflistung der wichtigsten Probleme bei solcher Beweisführung soll verdeutlichen, was für ein fragwürdiges Unterfangen die Ableitung von Steuerungsimpulsen aus derart unsicherer Erkenntnislage darstellt:

Forschungsgegenstand, Forscher/-innen und erst recht Ergebnisanwender/-innen stecken in unserem Fach allzu oft in selbstreferentiellen Systemen.
(Beispiele: Aufgrund welcher Logik / Erfahrung / Theorie / Absichten werden die Fragen / Hypothesen identifiziert, die wie untersucht werden? Mit welchem Gewicht gehen welche Antworten erst in die Auswertung, später in Steuerungsverfahren ein? Wenn tatsächlich Veränderungen gemessen werden können: Wer nennt diese wann und warum „relevant“? Wann generalisierbar? Wer beschrieb wann, wie den Ausgangsstatus?)

Stichwort „Hilfe zur Selbsthilfe“: Können in solchen Paradoxa steckende Tätige oder Behandelte überhaupt Aussagen zu Effekten machen? Welche Aussage über das eigene Tun / die eigene Mitwirkung würde in negativen Befunden stecken?

Individuelle und soziale Prozesse sind buchstäblich so unendlich komplex, dass überhaupt nur mikroskopische Teilaspekte erzieherischer Wirklichkeit beschrieben werden können. Und selbst dies erfordert regelmäßig Aufwände, die entweder nur staatlich geförderten Modellprojekten zur Verfügung stehen oder die nur durch privatwirtschaftliche Ausbeutung der Methode aufzubringen sind – sich aber dadurch selbst ad absurdum führen.[4] Die notwendige Reduktion von Komplexität in der Forschung wirkt sich in der Steuerung, wo diese Daten dann verwandt werden, mit völlig uneinschätzbaren Hebel- und Nebenwirkungen bzw. Abweichungen aus.

Hinzu kommt: In den vielfältig angebotenen Verfahren zur Messung von Wirkungen wird gerne der nicht ganz unerhebliche Unterschied zwischen Output und Outcome vermengt. Output wird beschrieben als unmittelbar feststellbares Ergebnis eines Lernprozesses, Outcome als langfristige, für die Bewältigung künftiger Aufgaben eigentlich entscheidende Prägung und Befähigung des / der Lernenden. An einem Beispiel ausgedrückt: Dadurch, dass etwa Erreichungsgrade von Zielen in Hilfeplänen gemessen werden, ist noch nichts darüber ausgesagt, wie stark und dauerhaft sich die intrinsische Motivation herausgebildet hat, bspw. Konflikte in nicht- gewalttätiger Weise zu lösen.

 

Exkurs zur Steuerung über Ziele in der Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII

Eine andere, dem Sinn nach ebenfalls wirkungsorientierte und mit vielen Hoffnungen beladene Steuerungslogik ist eben die bereits angesprochene individuelle Hilfeplanung nach §36 SGB VIII. Seit Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes im Jahre 1990 bis heute knüpft sich an den § 36 die Hoffnung, mit seiner Hilfe könne die vorgebliche Steuerungsresistenz der erzieherischen Hilfen überwunden werden. Durch die Fokussierung auf Ziele[5], sollen Jugendhilfemaßnahmen stärker wirksam und auf ihre Wirkungen hin überprüfbar werden.

Nun weiß man um die hohe Veränderungskraft genauer Zielformulierung und -justierung bereits seit langer Zeit aus Psychotherapieforschung und Managementlehre. Sie ist als Akt der (Neu-) Konstruktion von Wirklichkeit unverzichtbar – ABER:

Die Zielformulierung ist gleichzeitig nicht nur der aufwändigste und schwierigste Teil der Gesamtheit „Hilfeplanung“, sondern letztlich wieder nichts anderes als eine dramatische Reduzierung von Komplexität der Lebenswirklichkeit. Was anderes tut denn die fallzuständige Fachkraft, wenn sie mit den hilfesuchenden Kindern, Jugendlichen oder Eltern Schritt für Schritt konkrete, mit Aktionspotential aufgeladene Ziele aus einem für diese bisher unübersehbaren Wust von unkonkreten Wünschen, Hoffnungen und Visionen gleichsam herausziseliert ?[6]

So hat dieser im § 36 vom Gesetzgeber geradezu genial implementierte Akt der Konzentration auf das zur Überwindung einer aktuell bestehenden Situation Wichtigste und Dringendste eine historisch beispiellose Qualitätssteigerung und damit natürlich auch eine Steigerung der Wirksamkeit im einzelnen Fall freigesetzt. Aber eben auch nur dort.

Nimmt man nämlich jetzt im Steuerungsinteresse die Gesamtheit der formulierten Ziele zusammen, misst und berechnet ihren jeweiligen Erreichungsgrad nach irgendeiner Zeit, dann klafft zwischen diesem Wert und der Lebenswirklichkeit der kleinen und großen Bürgerinnen und Bürger eine Lücke die etwa so groß ist wie die zwischen den Zielformulierungen und den Hoffnungen. Zudem erfasst eine rein an Zielen bzw. dem Willen der Bürger/-innen orientierte Wirkungsüberprüfung kaum normative Zielbereiche, die natürlich gleichwohl beachtet werden müssen:

  • Schulerfolg mit dem Ziel und der einigermaßen realistischen Aussicht auf eigenverantwortlichen Verdienst des Lebensunterhalts
  • Legalbewährung oder die Fähigkeit zu sozial verträglichem Handeln einschließlich eines Mindesteinverständnisses in den politischen Grundkonsens des Staates / der Gesellschaft
  • die wenigstens elementare Fähigkeit, sich selbst und den Nachwuchs physisch und psychisch gesund zu erhalten (incl. Kinderschutz).

 

Exkursergebnis: Für die Steuerung der erzieherischen Hilfen ist eine Orientierung an Zielerreichungsgraden aus Hilfeplänen nicht ausreichend, u.a. weil das verwendete Instrument dafür nicht geschaffen wurde. Dennoch: Für die insgesamt aufgeworfene Frage des Zusammenhangs zwischen wirkungsorientierter Steuerung und Partizipation sind – wie wir gleich sehen werden – Zielformulierung und –erreichung wegweisend.
Wirkungen und Effekte der erzieherischen Hilfen können und sollen also gemessen und bewertet  werden. Diese Ergebnisse sind –mit allerlei methodischen Einschränkungen und der nötigen Vorsicht – für die professionelle Reflektion über die erbrachten Leistungen (im Sinne evidenzbasierter fachlicher Kunst) gut zu verwenden. Sie zu wirtschaftlicher Steuerung zu verwenden, ist und bleibt methodischer wie fachpolitischer Unsinn.

Zu den schon genannten Problemen kommen leider noch zwei weitere hinzu, die das Unternehmen Steuerung gegenwärtig ganz unabhängig von ihrer jeweiligen Ausrichtung oft scheitern lassen:

Zum Einen beeinflussen sich i.d.R. mehrere Steuerungslogiken (mit den dazugehörigen Beratern/-innen und Software- Anbietern/-innen), die zu schnell aufeinander folgend oder sogar gleichzeitig zur Anwendung kommen und zwar im unglücklichsten Falle unter strikten Sparbedingungen.

Zum Anderen wird ein der jeweiligen Steuerungslogik folgend aufgestellter Haushalt oder ein planerisches Ziel immer politisch über- oder nachgesteuert. Passt das Ergebnis politisch oder haushalterisch gerade nicht, dann werden schnell die Steuerungsparameter angepasst. Dies kann fachlicherseits bedauert werden, veränderbar ist es nicht, denn Kinder- und Jugendhilfe wird immer staatliches, also politisches Handeln bleiben.

Wirkungsorientiert gesteuert sollte also allenfalls mit der notwendigen methodischen Rücksichtnahme und nur dort werden, wo längerfristig Einigkeit über die regionalen jugendhilfepolitischen Ziele und keine allzu hoffnungslose öffentliche Armut besteht. Kommunen, die für diese Bedingungen nicht einstehen können, sollten sich damit eher nicht befassen.

Was hat nun aber Steuerung – welche auch immer – mit Partizipation zu tun?

„Partizipation“ als Begriff selbst ist im Bereich der Jugendhilfe eine raumgreifende Vokabel mit einer Vielzahl von Bedeutungsebenen. Im Bereich der Erzieherischen Hilfen wird sie im oben bereits angedeuteten Zusammenhang üblicherweise mit dem Thema Zielerarbeitung oder mit der direkten Mitwirkung junger Menschen etwa in Plena / Beiräten o.ä. verwandt. Für diesen Text soll sie durch das folgende Zitat und eine Erweiterung bestimmt werden:

„Ohne dass der Adressat aktiv mitmacht, ohne dass er selbst ein Ziel verfolgt und ohne dass man sich vorher darüber einigt, worin sinnvolle Schritte zur Zielerreichung bestehen können, haben die Fachkräfte keine Chance.“[7]

In Erweiterung dessen muss erwähnt werden, dass echte Partizipation erst dann stattfindet, wenn die Umstände so sind, dass die Adressaten/-innen den in der Mitwirkung liegenden eigenen Nutzen deutlich erkennen.

Partizipation ist also eine Art induzierte Emanzipation.

Professionelle, die partizipativ handeln wollen, müssen demnach die Prozesse von Auswahl, Gestaltung, Durchführung, Überprüfung und Anpassung von Hilfen so gestalten, dass die Hilfesuchenden diese in möglichst selbstbestimmter Weise für sich nutzen und darin eine nachhaltige Erweiterung ihres Handlungsspektrums und einen positiven Sinn erkennen können.

Darin verbergen sich streng logisch genommen gleich mehrere Paradoxa:

1. Der Akt der Leistungsgewährung kann eigentlich nicht partizipativ erbracht werden. Weil es eine gewährende und eine empfangende Partei gibt. Nur nebenbei: Dies schließt die öffentliche Hand als Leistungserbringer aus, weil ihr ja die Leistungsgewährung notwendig zufällt.

2. Der Akt der Leistungserbringung könnte nur dann partizipativ erbracht werden, wenn er zieloffen erbracht würde. Nur dann hätten die Hilfesuchenden die Chance, die Hilfe in einer ihrer eigenen Sinnkonstruktion entsprechenden Weise zu ko- produzieren. Gewissermaßen als seien sie schon in dem Stande, in den erst der Prozess sie versetzen soll.

3. Wächteramt und Kontrollauftrag erzeugen einen – unter der herrschenden Bedingung, dass der Staat offenbar immer mehr seiner kindlichen Einwohner/-innen vor ihren Eltern schützen muss allerdings unverzichtbaren – einseitigen Machtüberhang im Aushandlungs- und Erbringungsprozess.

Man sieht also, der Begriff Partizipation drückt eine hochparadoxe und überaus herausfordernde Haltungs- und Handlungsaufforderung aus. Er führt die scheinbare Unmöglichkeit von wirksamer Hilfe an sich vor Augen, verweist aber im selben Moment auf die unbestreitbare Tatsache, dass die Menschheit ohne ihre Fähigkeit und den angeborenen Antrieb, genau diese Unmöglichkeit zu überwinden, längst untergegangen wäre. Dies erhebt ihn für die berufliche Praxis zur hoffnungsvollen Handlungsmaxime und zur hehren Vision.

Wie aber kann ein solcher Anspruch nur eingelöst werden?

Im Sinne nur näherungsweiser aber beispielgebender Antworten auf diese Frage soll hier kurz an zwei schon lange etablierte Konstrukte erinnert werden, die momentan etwas in Vergessenheit geraten sind:

a) Gut konstruierte pädagogische Settings. Sie sind genau so ausgedacht und angelegt, dass sie die w.o. angesprochene Herausforderung zur Selbstentwicklung an die Kinder / die Jugendlichen / die Familien im Sinne eines fordernden Umfeldes kommunizieren. Dies wird am Beispiel einer Berliner Wohnplatzvermittlung für Jugendliche illustriert.

b) Die Rechtsansprüche derjenigen, die Jugendhilfe benötigen, sind grundsätzlich durch eine konstruktive Aufnahme des Hilfeparadoxons gekennzeichnet.

Im Einzelnen:

Ausgestaltung von Partizipation durch wirkungsmächtige Settings – ein Berliner Beispiel

Durch eine im „Fachverband Betreutes Jugendwohnen“ versammelte Anzahl von etwa 20 Trägern der Jugendhilfe, allesamt Anbieter von ‚sonstigen betreuten Wohnformen’, wurde ab ca. Mitte der 1980er Jahre (und bis heute !) ein Konstrukt angewandt, bei dem Hilfesuchende im Alter von 15 bis ca. 21 Jahren nach einer grundsätzlichen Bedarfsprüfung und Hilfeplanung durch ihre fallzuständige Fachkraft im Jugendamt den Auftrag erhielten, sich mit Unterstützung einer sog. ‚Jugendwohnplatzvermittlung’[8] selber einen aus drei vorgeschlagenen Wohnplätzen auszusuchen.

Wenn man dieses sehr einfache Setting[9] genauer unter die Lupe nimmt, fällt einem zuerst auf, dass es genau dadurch Wirkung induziert, dass es die Jugendlichen ernst nimmt. Erst wenn sie nämlich mitwirken, können sie einen Wohnplatz erhalten. Tun sie dies nicht (gehen sie beispielsweise nicht zu den Vorstellungsterminen), finden sie keinen Platz – und verursachen so gesehen auch keine Unterbringungskosten. Ganz einfach wirkungsorientiert gesteuert.

Zweitens induziert dieses Setting Qualität, indem es die Jugendlichen in eine Perspektive setzt, die mit der eines sich am Markt orientierenden Verbrauchers vergleichbar ist.
Sie gehen freiwillig dahin, wo sie sich wohl fühlen.
Und: Genau dort besteht auch – wenn überhaupt – die größte Aussicht darauf, dass sie die Hilfe auch dann noch annehmen, wenn diese im Laufe ihrer Dauer nicht mehr nur noch bequeme Freiräume verheißt, sondern anspruchsvoll und fordernd wird. Da wo man sich am wohlsten fühlt, ist man am offensten für Veränderungen und Lernprozesse[10]. Ganz einfach qualitätsorientiert gesteuert.

Ferner induziert dieses Setting eine nach sozialen Räumen orientierte Marktorganisation. ‘Sonstige betreute Wohnformen’ entstehen nämlich da, wo Jugendliche leben möchten.
Ganz einfach sozialraumorientiert gesteuert.

Man muss dazu vielleicht anmerken, dass soziale Räume natürlich keineswegs nur dort existieren, wo Bürokratien sie verorten. Vielmehr entstehen sie in ihrem eigentlichen Sinne durch die Aneignung des Raumes durch Menschen – vereinfacht ausgedrückt durch eine Art Abstimmung mit den Füßen.

Bürokratie könnte hier noch viel von Sozialraumorientierung lernen, wenn sie bloß nicht immer so viel steuern wollte.

Eine letzte, sehr wichtige Stärke dieses Konstrukts unter partizipativen Gesichtspunkten liegt noch in seiner herausfordernden Neutralität: Jene jungen Menschen, die nicht genug zur Realisierung ihres Wunsches beitragen (können), werden ignoriert. Sie müssen vielleicht ihr Elternhaus noch eine Weile tolerieren. Erst sobald sie ihr Nichtstun aufgeben, steigt ihre Chance. Aber eines passiert ihnen nicht: Sie werden nicht durch weitere Konsequenzen bestraft. Ein zu stark steuerndes Hilfesystem neigt dazu, anpassungsunwillige Klienten zu bestrafen. Ver- und Zuschreibung, Be- und v.a. Abwertung sowie Wenn-dann-Konstellationen sind solchen Hilfesystemen immanent. Wahrscheinlich kann man darin eine Art Reaktionsbildung sehen – die Ohnmacht der Helfer/-innen verkehrt sich ins Gegenteil und wendet sich als Aggression gegen die Hilfesuchenden.

Der individuelle Anspruch auf Hilfe zur Erziehung aus dem SGB VIII als Ausgestaltung von Partizipation

Ein vergleichender Blick auf die Rechtsstellung der am jugendhilferechtlichen Dreieck beteiligten Parteien offenbart:
Die weitreichendsten Gestaltungsrechte hat der Gesetzgeber den Bürgerinnen und Bürgern übertragen. Nach ihren Vorstellungen hat sich die Hilfe vor allem auszurichten, soweit ihr Anspruch dem Grunde nach berechtigt ist. Lange vor Erreichen der Volljährigkeit können sie über die Gestaltung einer Hilfe in angemessenem Umfang mitentscheiden
Nicht zuletzt der Blick auf Rechtsfolgen bei Nichterfüllung der vertraglichen Ansprüche verdeutlicht, in welchem Maße die Position der Anspruchsinhaber/-innen herausgehoben wurde: Bei Nichterfüllung der Mitwirkungsverpflichtung droht lediglich das Ausbleiben der Leistung und ihrer erhofften Wirkung (Ausnahme: „Graubereich“, Gefährdung des Kindeswohls, dabei aber ergibt sich die Rechtsfolge eher aus den Rechtsansprüchen des Familienrechts als aus denen des SGB VIII).

Ganz anders die öffentliche Hand als Trägerin der Leistung– sie kann es sich de jure in der Regel nicht aussuchen, ob und nur begrenzt, wie und in welchem Umfang sie leistet. Sie ist an rechtsstaatliches Handeln gebunden, Nicht- oder Falschhandeln sind mit Rechtsfolgen bedroht.[11]

Im Vergleich noch schwächer: Der Erbringer der Leistung. Er muss im Wesentlichen erbringen, was Leistungsempfänger und öffentliche Hand von ihm verlangen. Im Falle der Nicht- oder Falscherbringung entstehen gegen ihn Ansprüche auf Schadenersatz und weitergehende Rechtsfolgen von beiden anderen Seiten. Gestaltungsspielräume entstehen allenfalls durch die der pluralen Gesellschaftsordnung entsprechende Forderung nach vielfältigen Wahlmöglichkeiten und nur so lange diese Spielräume nicht weggesteuert (!) werden.

 

Wir sehen in dieser weitreichenden individuellen Gestaltungshoheit der Bürgerinnen und Bürger das Partizipationselement schlechthin und in der Kombination aus Hilfeplanverfahren nach § 36 SGB VIII, den Qualitätsvereinbarungen[12] und schlauen pädagogischen Settings ausreichend präzise überprüfbare und steuerungstaugliche Instrumente. In wunderbar nutzerorientierter Weise können sich Angebote, Leistungen und letztlich auch Preise ausrichten, wenn die Leistungsempfänger/-innen wirklich die Möglichkeit haben, ihre Mitwirkungsrechte auszuüben.

Dies einzulösen wird natürlich in einer finanzschwachen und von immer neuen Steuerungslogiken regelrecht überschwemmten Jugendhilfelandschaft schwierig und schwieriger. Und so muss die Rechtsprechung deutsche Jugendämter immer wieder einmal darauf hinweisen, dass weder Sozialräume oder Finanzrahmen noch nachgeordnete Ausführungsvorschriften oder Verfahrensanweisungen zur

  • Verminderung der regionalen Angebots- und Trägervielfalt (Trägerbudgets) oder
  • Verminderung der fachlichen Angebotsvielfalt (Verzicht auf Nutzung bestimmter Leistungsarten, Leistungsverbote oberhalb bestimmter Entgeltsätze, Quasi- Verbot ganzer Leistungsarten oder Kombinationen

führen dürfen.

Ebenso wenig darf Information über Angebote und Werbung als „Bedarfsweckung“ diskreditiert oder sanktioniert werden. Im Gegenteil: Damit es den Bürgerinnen und Bürgern möglich ist, ihre Gestaltungsrechte individuell auszuüben, müsste das Jugendamt breit und sehr frühzeitig über mögliche Leistungen und Angebote informieren und im präventiven Sinne zu deren Inanspruchnahme geradezu ermuntern.

 

Zusammengenommen führt dies direkt ins Ziel unserer Fragestellung und zu einer These, die Wirkungsmessung, Steuerung und Partizipation miteinander konstruktiv verbindet:

Partizipation als fachliche Grundhaltung professioneller Helfer/-innen hat die Potenz, Effekte, Effizienz und Ausnutzungsgrad von Hilfen zu erhöhen und so insgesamt steuernder als jede Steuerungspolitik zu wirken.

Umgekehrt schränkt ein zu viel an Steuerung Wachstums- und Entfaltungsprozesse ein, erhält Abhängigkeit und begründet sich selbst.

 

Informierte Bürger/-innen, die Hilfe zur Erziehung in Anspruch nähmen, täten dann etwas, das ganz natürlich im Rahmen ihrer „normalen“ familiären Handlungsmöglichkeiten läge. Allein durch diesen Vorgang der Normalisierung und „Selbsteroberung“ der Hilfe müsste deren Effizienz steigen.

Hilfen würden sich mehr als bisher denkbar an Sinnkonstruktionen oder der Nachfrage der Bürger/-innen entlang selbst steuern. Nur zwei Beispiele:

  • Gute und richtig platzierte Präventionsangebote (z.B. Orte an denen ein Zusammenwirken von Jugendhilfe und Schule gelingt)
  • Erziehungshilfen, die so gestaltet sind, das die Personensorgeberechtigten sie tatsächlich als Unterstützung erleben können, z.B. wohnortnahe, integrierte Hilfen auch bei stationärem Bedarf.

Nicht zuletzt Jugendhilfeplanung müsste unter partizipativen Gesichtspunkten einen ganz anderen Auftrag erfüllen. Dem Staat käme – neben dem Kinderschutz – nur noch die Aufgabe zu, die Ein- und Mitwirkungsmöglichkeiten für die Bürger-/innen effektiv zu organisieren und Mitnahmeeffekten vorzubeugen. Beispiel: Über die w.o. angesprochenen normativen Zielkriterien von Hilfe zur Erziehung müsste den Bürgern/-innen reiner Wein eingeschenkt werden, bevor mit ihnen ausführlich ihr Wille erkundet wird – ähnlich wie bei einem Oberschüler, der sich bei einem Wahlpflichtfach das „Was“ aussuchen darf, aber nicht das „Ob“.

Ein Nebeneffekt könnte sein, dass öffentlich finanzierte Jugendhilfe in Verbündung mit den Interessen der Bürger/-innen langfristig natürlich mehr politisches, auch wirtschaftliches, Gewicht und einen völlig anderen Legitimationsstatus gewinnen könnte. Anders ausgedrückt:

 

Wie wäre es denn, wenn nicht mehr zu hohe Mittelverbräuche sondern zu geringe Investitionen in Jugendhilfe öffentlich gerechtfertigt werden müssten?

 


[1]              Def. „Wirkungsorientierte Steuerung“: Die Steuerungsmöglichkeiten der §§ 78a-g SGB VIII sollen u.a. durch anreiz- und ergebnisorientierte Finanzierungselemente so ausgestaltet werden, dass intendierter Wirkungen eher zu-, unerwünschte Nebenwirkungen und nicht nötige Hilfen eher abnehmen und dadurch Kosteneffekte erzielt werden können. Vgl. F. Peters in FORUM Erziehungshilfen, Jg. 12 2006, S.260.

[2]              Angefangen bei der bereits 1959 von Pongratz, L. vorgelegten katamnestischen Untersuchung „Lebensbewährung nach Heimerziehung“, Luchterhand Darmstadt, über Schüpp, D. „Wirkungsanalyse von Heimerziehung“, Hoffnungsthal 1978, sowie dem Berliner Jugendpsychiater K. Hartmann, der 1996 die beeindruckende, über 30 Jahre (!) zurückreichende Interviewstudie „Lebenswege nach Heimerziehung“ vorlegte, bis zu den wirklich großen Erhebungen der neueren Zeit mit der JULE Studie 1998, der JES– Studie und den ersten EVAS– bzw. WIMES– Auswertungen 2002, gilt dies unabhängig von Art, Umfang, methodischer Kunst oder Fragestellungen im Einzelnen. Verwiesen sei auf die 45 eng bedruckte Seiten umfassende Bibliographie in W. Gehres, „Das zweite Zuhause – Lebensgeschichte und Persönlichkeitsentwicklung von Heimkindern“, Leske + Budrich, Opladen, 1997. S. 225 ff..

[3]              Prof. Dr. Klaus Wolf in der Schriftenreihe „Wirkungsorientierte Jugendhilfe Band 4“, Seite 7

[4]              Einzig das bottom- up aufgebaute und laufend dialogisch mit den Anwendern überprüfte „WIMES“ könnte vielleicht in einigen Jahren steuerungsverwertbare Messergebnisse produzieren.

[5]              Eine umfassende Methodenschau zur Zielbestimmung in der Kinder- und Jugendhilfe bietet M. Schwabe, „Methoden der Hilfeplanung“, IgfH Eigenverlag, Frankfurt / Main, 2005

[6]              Vgl. die von W. Hinte eingeführte, leicht bemühte Unterscheidung zwischen „Wunsch“ und „Wille“.

[7]              M. Schwabe, „Methoden der Hilfeplanung“, IgfH Eigenverlag, Frankfurt / Main, 2005, Seite 31

[8]              www.jugendwohnplatz.de

[9]              … das übrigens auch nach heutigen Maßstäben finanziell durchaus günstig war und gut von den Jugendämtern angenommen wurde….

[10]             Dass der ‚Wohlfühl’ i.S.e. Resilienz- Faktors eine wirkungssteigernde Ressource ist, wird heute keinen fachlichen Diskurs mehr entzünden.

[11]             De facto mag es aus Sicht der Leistungsberechtigten hier und da allerdings sehr schwer bis unmöglich scheinen, ihre Rechtsansprüche zu realisieren.

[12]             § 78a-g SGB VIII