Leitner, H.: Qualitätssicherung im Kinderschutz! Mit Fehl und Tadel?

Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (Grundgesetz Artikel 6 Abs. 2)

Die Sicherung des Kindeswohls im Sinne des Grundgesetzes ist eine vorrangige Aufgabe insbesondere der öffentlichen Jugendhilfe und damit in kommunaler Verantwortung.

Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben für die Erfüllung der Aufgaben nach diesem Buch die Gesamtverantwortung einschließlich der Planungsverantwortung … haben für eine ausreichende Ausstattung der Jugendämter … zu sorgen; hierzu gehört auch eine dem Bedarf entsprechende Zahl von Fachkräften. (SGB VIII § 79 Abs. 1 und 3)

Loyalität, Reflexionsbereitschaft bzw. eine Kultur des selbstkritischen Umgangs bezüglich des eigenen beruflichen Handelns sind notwendige Rahmenbedingungen, um Unsicherheiten, Widersprüche oder gar Fehler besonders in einem strukturell risikobehafteten Arbeitsfeld offen thematisieren zu können.

Eine solche Art von „Fehlerfreundlichkeit“ als Basis für Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung in der Kinder- Jugend- und Familienhilfe, in besonderer Weise im Kinderschutz gelingt, wenn neben den genannten Bedingungen auch:

  • §        der institutionelle Rahmen (Geld, Zeit, Personal) bedarfsgerecht gestaltet ist,
  • §        die Fachaufsicht als Mittel der Qualitätsentwicklung angewendet wird,
  • §        die Dienstaufsicht als Möglichkeit der konstruktiven Auseinandersetzung zum Einsatz kommt,
  • §        die Transparenz von Entscheidungswegen gesichert wird,
  • §        die Verbindlichkeit von Entscheidungen Verlässlichkeit bietet,
  • §        die Personalentwicklung und Qualifizierung (Fortbildung, Supervision) als Möglichkeiten des Leitens, Führens und Steuerns verstanden werden.

Frau Wächter ist eine langjährig tätige und von Kollegen/innen sowie Trägern, wie auch von Familien geschätzte Sozialarbeiterin aus dem Jugendamt Glücksstadt. Morgen, nach mehr als 45 Berufsjahren wird sie in den Ruhestand gehen.

Sie kam vor vierzig Jahren in die Jugendhilfe, nachdem sie ihr Fachschulstudium abgeschlossen hatte. Zunächst arbeitete sie mehrere Jahre als Heimerzieherin in verschiedenen stationären Einrichtungen, bis sie nach einem Hochschulstudium vor 25 Jahren in die Behörde wechselte und seither im sozialen Dienst zunächst des Referates Jugendhilfe und später im Jugendamt beschäftigt ist.

Die Sozialarbeiterin Frau Wächter, galt schon immer als hoch engagiert für ihre Familien, oft genug auch nach offiziellem Dienstschluss. Sie war vielen Müttern und Vätern Begleiterin in schwierigen Lebenssituationen. So manchen jungen Menschen hat sie auf dem Weg ins Erwachsenwerden begleitet und immer wieder auch Kindern von „ihren Kindern“ geholfen in den eigene selbst bestimmten Alltag zu finden. Frau Wächter ist in ihrem Landkreis sowohl in Fachkreisen als auch bei Familien eine streitbare und präsente „Institution“. „Frag doch mal die Wächter, die weiß das und die macht das schon!“

Sie fand immer einen Weg, scheinbar Unmögliches für ihre Familien zu erreichen, scherte sich wenig um Haushaltsordnungen oder Zuständigkeiten und scheute auch vor Konflikten mit ihren Vorgesetzten nicht zurück, wenn sie eine Hilfe für notwendig, geeignet und vor allem Erfolg versprechend hielt. Schon lange vor der Zeit der Deckungsringe oder des SGB IX machte sie möglich was erforderlich schien und musste damit auch mache „Niederlage“ einstecken, wenn ihr „Plan“ nicht aufging – Familien trotz Hilfe an den Anforderungen des Alltags „scheiterten“, Eltern immer wieder „Besserung“ versprachen und sich doch nicht an die getroffenen Vereinbarungen hielten oder Kinder trotz Hilfe immer wieder durch ihre Eltern in schwierigste Situationen gebracht wurden.

Sie ist eine der Sozialarbeiter/innen die von Beginn ihrer beruflichen Laufbahn an und damit schon weit vor der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes und den damit gesetzlich bestimmten Beteiligungsrechten von Eltern und jungen Menschen erkannte, dass mit deren Einbeziehung in die Hilfe- oder auch Schutzplanung die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Hilfeverlaufs deutlich stieg.

Aber Frau Wächter hat auch Situationen aus ihrem beruflichen Alltag im Kopf, die sie auch aus heutiger Sicht immer wieder unruhig werden lassen. So sitzt sie am Abend vor ihrer Berentung zu Hause und liest in ihrem seit Jahren geführten pädagogischen Tagebuch, schlägt immer mal wieder abwechselnd schmunzelnd und nachdenklich in einem der zahlreichen Terminkalender der vergangenen 45 Jahre nach. Der Mann, ihr Mann, gegenüber sitzt still und wartet darauf, die Kiste auf den Dachboden bringen zu können.

Da war die Einschätzung eines sympathischen Großvaters bei einem Hausbesuch zu einer anonymen Information von Vernachlässigung und häuslicher Gewalt, dass es seiner Enkeltochter Lea Sophie doch eigentlich gut gehe und seine eigene Tochter es mit seiner Unterstützung schon schaffen werde, künftig die ausreichende Versorgung und die Sicherheit der Enkeltochter zu gewährleisten. Er würde es gemeinsam schon schaffen, den etwas ruppigen Partner seiner Tochter in die Schranken zu weisen. Sie hatte damals ein gutes Gefühl und von einem weiteren Hausbesuch abgesehen, aber vereinbart, dass sich der Großvater, wie sie sich mit ihm einigte, „bei neuen Schwierigkeiten“ umgehend melden würde. Sie hatte Tochter und Enkeltochter nicht gesehen und gesprochen und: Sie hatte von der Familie nie wieder etwas gehört. Was wäre geschehen, wenn die Versicherungen des Großvaters unwahr bzw. unrealistisch gewesen wären?

Da hatte sie im Rahmen einer vermuteten Situation sexueller Gewalt gegen das achtjährige Mädchen Anke zu dessen Schutz die vorübergehende Betreuung in einer Tagesgruppe unter der Bedingung gewährt, dass der vermeintliche Täter bis zur Klärung des Falls die gemeinsame Wohnung nicht betritt und ein Umgang mit dem Mädchen bis dahin unterbleibt. Zur Kontrolle der Einhaltung der Festlegung hatte sie mit der Mutter vereinbart sich bei Nichteinhaltung umgehend an sie zu wenden. Was wäre geschehen, wenn die Mutter aus Angst oder „Loyalität“ dem Lebensgefährten gegenüber sich nicht an die Vereinbarung gehalten hätte und es zu einem erneuten folgenschweren Übergriff gekommen wäre?

Da war eine Aktennotiz, die ihr die Sekretärin während eines Telefonates hereinreichte und die sie einfach vergessen hatte. Erst als sie zwei Tage später ihre Schreibtischablage leerte viel ihr diese Meldung einer besorgten Nachbarin wieder in die Hände. Der Hausbesuch, den sie nun noch umgehend am Freitag kurz vor Feierabend durchführte ergab, dass das Baby der betreffenden Familie seit einigen Wochen regelmäßig ab 21.00 Uhr zu schreiben begann und sich erst nach Stunden wieder beruhigen lies. Ein Arztbesuch ergab die Diagnose: 3-Monats-Kolik. Die regelmäßige ärztliche Vorstellung war laut Bestellkärtchen vereinbart. Und über einen Besuch in der Beratungsstelle waren die Eltern offensichtlich ausreichend mit Informationsmaterial versorgt, um diese Zeit gut überstehen zu können. Erleichtert schrieb sie damals noch rasch das Protokoll für die Akte. Sie denkt heute Abend an das tote Baby, dass in einem Altkleidercontainer gefunden wurde. Was wäre, wenn es sich tatsächlich um eine Vernachlässigung oder Misshandlung gehandelt hätte, die jungen Eltern aus der Überforderung und Ohnmacht heraus ihren Kevin geschüttelt hätten?

Da war ein Anruf aus der Schule, dass ein Kind nicht zur Einschulung und in der Folge zum Unterricht erschienen sei; die Familie sich nicht melden würde. Ein Hausbesuch ergab nach Angaben der Eltern, dass das Kind eine langwierige Krankheit habe, die Familie dies dem Schulamt gemeldet habe und es derzeit zur Kur sei. Sie hatte damals nicht darauf gedrungen, das Kind umgehend persönlich zu sehen. Dies geschah erst nach sechs Wochen bei einem ihrer routinemäßigen Kontrollbesuche, die sie schon seit Jahren immer wieder macht, wenn sie eine Gefährdungsmeldung erhalten hatte. Was aber, wenn die Eltern nicht die Wahrheit gesagt hätten und ihr Dennis absichtsvoll vorenthalten worden wäre?

Hatte Frau Wächter einfach immer wieder nur Glück? Hätte die Veröffentlichung solcher vermeintlichen Unzulänglichkeiten oder gar „Fehler“ das berufliche Aus für sie bedeutet? Was wäre geschehen, wenn sie solche Ereignisse oder ihre Unsicherheiten und Ängste gegenüber ihren zahlreichen Chefs hätte offen gelegt?

Dazu kam es nie, obwohl Frau Wächter mehr als 45 Jahre und davon überwiegend an einem Arbeitsplatz beschäftigt war. Fehler, wenn man das überhaupt so nenne dürfe, denkt Frau Wächter habe sie nie mit Absicht gemacht. Es gab immer wieder Situationen, die sie im Nachhinein als nicht so gut gelungen ansah und deshalb war es ihr wichtig auch und gerade so etwas in ihrem pädagogischen Tagebuch festzuhalten.

Wichtig war Frau Wächter immer, über solche Erfahrungen schreiben bzw. sprechen zu könne. Ihre Arbeit hatte selbst zur Wendezeit, nie eine wirklich kritische fachliche Beurteilung erfahren. Sie hatte in ihrem beruflichen Leben nie ein „Personalentwicklungsgespräch“ in dem ihre Arbeit hätte beurteilt werden können. Ihre Arbeit hatte dazu auch nie einen wirklichen Anlass gegeben. Sie war nie krank. Es gab nie einen Termin, den sie schuldhaft versäumte. Nie hatte der Arbeitgeber eine Beschwerde von Bürger/innen über ihre Arbeit erhalten. Nie war ein Kind im Zusammenhang mit ihrer Fallzuständigkeit zu Schaden gekommen.

Und doch gab es aus ihrer Sicht immer wieder kritische Situationen in ihrem beruflichen Alltag, die Anlass für eine fachliche Auseinandersetzung mit dem Chef und für die Weiterentwicklung der Jugendhilfe im Landkreis geboten hätten. 

Unter Kolleginnen und Kollegen war das was anderes. Sie hatte solche persönlichen „Vorkommnisse“ immer wieder versucht mit ihren Kolleginnen und Kollegen zwischen Tür und Angel bzw. in den kollegialen Fallberatungen offen zu besprechen oder diese im Rahmen der nicht immer regelmäßig stattfindenden Fallsupervisionen selbstkritisch zu reflektieren. Statt zu vertuschen hatte sie sich immer wieder bemüht ihr Handeln kritisch zu hinterfragen, weniger Gelungenes zu thematisieren und sogar auch Praktikanten/innen an ihrer „Fehlbarkeit“ und Unsicherheit teilhaben lassen. Sie hatte über Jahre hinweg ihr pädagogisches Tagebuch geführt und war immer wieder mit sich am hadern gewesen, ob ihre Berufswahl wohl die richtige war. Und so liest sie heute, am Abend vor ihrer Berentung in ihren persönlichen Aufzeichnungen Selbsteinschätzungen, wie „dumm“, „unfähig“, „unsicher“, „ratlos“, „unvorsichtig“ oder „unwissend“, wenn ihr vermeintlich etwas nicht gelungen war. Auch las sich rückblickend immer wieder von Situationen, in denen sie über vorhandene und notwendige Standards sozialer Arbeit, deren Sinnhaftigkeit, Einhaltung, Kontrolle und Weiterentwicklung nachdachte. Nicht selten kam sie zur nüchternen Einschätzung: Jeder macht was er will, keiner was er soll und alle machen mit! Besonders deutlich erlebte sie dies immer wieder, wenn ein neuer Chef kam, wenn von Controlling und Steuerung gesprochen, diese aber im beruflichen Alltag nicht mit Konsequenz gelebt wurde, wenn Unzulänglichkeit öffentlich wurden, aber eigentlich folgenlos blieben. Immer wieder verfolgte sie Gerichtsprozesse in denen Sozialarbeiter/innen in der Regel wegen „Unterlassungen“ zur „Verantwortung“ gezogen werden sollten. Sie erlebte auch hier, dass es weniger darum ging, die Sozialarbeit für die Nutzer/innen zu verbessern, sondern eher darum, die „Rechtssicherheit“ für die Fachkräfte zu verbessern. In solchen Verfahren wäre ihr pädagogisches Tagebuch oder ihr Terminkalender wohl grundsätzlich fehl am Platz gewesen und eher als „Beweismittel“ gegen sie verwendet worden.

Sie war über die Jahre hinweg förmlich davon „besessen“ gewesen, es wenigstens für sich das nächste Mal besser zu machen. Unter Kolleginnen und Kollegen wird sie nicht unbedingt schmeichelhaft aber anerkennend „Psychosoze“ genannt.

Irgendwann hatte sie noch als junge Kollegin aufgehört, von anderen zu fordern, zu ihren Fehlern zu stehen, weil sie merkte, dass dies ihrer Karriere im Weg stand, einer Karriere, deren oberste Stufe sie, wie sie erst viel später und mit äußerster Zufriedenheit empfand, bereits mit ihrem Eintritt ins Berufsleben erreicht hatte. Und so wird sie morgen gemeinsam mit ihrem im Verborgen bleibenden pädagogischen Tagebuch in den wohlverdienten Ruhestand gehen.

Ihr Blick folgt ruhig und zufrieden ihrem Mann, der schnaufend die Treppe zum Dachboden bezwingt.