Kupffer, (em.) Prof.Dr. H.: Heute schon vorgebeugt?

Der „Simplicissimus“ bringt (so um 1900) folgende Glosse:

In einer Kompanie hat ein Musketier gestohlen. Am nächsten Tag spricht der Regimentskommandeur mit dem betreffenden Kompaniechef über den bedauerlichen Fall und ist sehr ungehalten. „Haben Sie denn Ihre Leute nicht vor Diebstahl gewarnt?“ fragt er den unglücklichen Hauptmann. „Jawohl, Herr Oberst.“ „Dann haben Sie es nicht häufig genug getan, sonst wäre so etwas nicht passiert.“ „Herr Oberst, zweimal wöchentlich in der Instruktionsstunde.“ „Sehen Sie“ poltert der Oberst los, „das is eben nicht jenuch, nen Tag vorher hätten Sie es machen sollen.“

Wenn wir das lustig finden und genug darüber gelacht haben, sollten wir mal überlegen, ob wir heute wirklich so weit davon weg sind. Denn immer, wenn mit jungen Menschen irgendetwas los ist, wenn gewaltgewöhnte Jugendliche zuschlagen, wenn Amokläufer eine Schule stürmen, wenn Kinder getötet oder halb verhungert aus einer total verwahrlosten Wohnung geholt werden, erschallt der Aufschrei: Warum hat denn niemand das rechtzeitig verhindert?

Die Öffentlichkeit behandelt solche Vorkommnisse, an denen Kinder und Jugendliche als Opfer oder Täter beteiligt sind, entweder als Betriebsunfälle, die eigentlich gar nicht passieren dürften, oder als Naturkatastrophen, deren Herannahen die Experten hätten spüren müssen. Um ein bisschen besser zu verstehen, warum das so läuft, stellen wir drei Fragen.

 

1. Was setzen wir voraus?

Wir gehen aus von einer „normalen“ Gesellschaft, in der im Prinzip alle Menschen, ob alt oder jung, friedlich miteinander leben und die Gesetze achten. Da darf es nichts geben, was unseren durchschnittlichen Horizont übersteigt. Sicherheit ist garantiert, Zuständigkeiten sind klar; und man weiß, wer wofür verantwortlich ist. Gerät diese heile Welt außer Kontrolle, heulen wir hilflos auf: nicht nur wegen dieses Einzelfalles, sondern weil damit das ganze Gebäude unserer Prämissen ins Wanken gerät.

Der nächstliegende Schritt scheint dann die Fahndung nach den „Ursachen“ zu sein. Wie konnte das passieren, an welcher undichten Stelle ist Sand ins Getriebe geraten, warum gibt es überhaupt, Gewalt, Bosheit und asoziales Verhalten? Da wir die Struktur unserer Gesellschaft für stabil halten, muss es einen Schuldigen geben. Also wollen wir wissen, wer auf seinem Posten geschlafen und in der Erfüllung seiner eindeutigen Pflichten versagt hat.

Die Folge ist der Ruf mach wirksamen Instrumenten, die solches Unheil in Zukunft ausschließen. Dabei hält man sich an das Greifbare. Schießt einer um sich, gehören Waffen verboten; sticht er zu, müssen Messer weg. Vor allem sollen Kinder schon ganz früh auf mögliche Gefahren vorbereitet und für deren Abwehr getrimmt werden; so als ob Erzieher, Kindergärtnerinnen und Lehrer immer schon wüssten, was kommt, und sich selbst wie auch die Kinder darauf einstellen könnten. Dies führt auf unsere zweite Frage:

 

2. Wie wirken präventive Maßnahmen?

Die Gesellschaft hält auf alle Missstände, die mit Gewalt von Jugendlichen oder gegen sie zu tun haben, zwei Antworten bereit. Die erste empfiehlt eine Verfeinerung der Kontrollinstrumente: Pornos im Internet verbieten, Alkoholverkauf unterbinden, Fernsehkonsum und Computerspiele überwachen, also ein lückenloses Netz spannen, das den Jugendschutz garantiert. Eben dies macht die Kontrolle problematisch. Man ahnt vielleicht, dass dies alles nicht wirklich hilft, fühlt sich aber unter dem Zwang zu handeln und verfällt leicht in blinden Aktionismus.

Die zweite Antwort zielt auf bessere Ausbildung der Pädagogen. Erst kürzlich erklärte ein Lehrer nach dem Amoklauf eines Schülers: Wir sind für solche Horrorszenarien nicht ausgebildet (sonst hätten wir natürlich wirksam eingegriffen). Der Ruf nach effektiver Ausbildung geht davon aus, dass es viele ähnliche Fälle gibt, dass jedes Phänomen ein statistisch erfassbares, nicht an die Einzelperson gebundenes Merkmal darstellt; dass man weiß, wie so etwas entsteht und sich auswirkt.

Natürlich müssen Pädagogen für ihren Beruf ausgebildet werden. Und sicherlich sammeln sie mit der Zeit Erfahrung darin, dass es in der Tat immer wieder vergleichbare Ereignisse gibt. Aber dieses Hintergrundwissen ist für sie nur ein Hilfsmittel, das nicht automatisch auch in unvorhergesehenen Einzelsituationen wirkt. Denn entscheiden müssen sie selbst. Gerade die Berufung auf die Ausbildung kann ihre Entscheidungen lähmen und sie in der pädagogischen Falle festhalten. Denn einerseits gibt es im Erziehungsalltag kritische Situationen, in denen sich die Person bewähren muss. Andererseits vollzieht sich Erziehung als Prozess, in dessen Verlauf eine Beziehung entsteht. Für beides gibt es keine Ausbildung, die das alles vorwegnehmen und vorsorglich steuern kann. Jeder Fall ist für die Beteiligten ein Original. Damit kommen wir zur dritten und letzten Frage:

 

3. Wie läuft Erziehung?

Der übliche Anspruch der Öffentlichkeit an die Pädagogen, dass sie die Welt in Ordnung halten sollen, schränkt ihren Spielraum ein und nimmt ihnen die Handlungsfreiheit. Ihnen wird zugemutet, die Vielfalt menschlichen Zusammenlebens vorwegzunehmen. So verlagert man die Komplexität unserer Gesellschaft in das Gehirn und die Zuständigkeit eines Berufsstandes.

In allen Institutionen, von denen dergleichen erwartet wird, errichtet man ein System, das funktionieren und Schaden abwenden muss. Aber das System selbst macht gerade durch diese Erwartung das Ziel der ganzen Veranstaltung zunichte. Eine pädagogische Einrichtung, die planmäßig junge Menschen etwa zu Selbständigkeit, Verantwortung, Empathie erziehen will, muss an ihren inneren Widersprüchen scheitern.

Weil Erziehung auf Freiheit beruht, ist sie ergebnisoffen. Ihr Modell, vor allem in Institutionen wie Schule oder Heim, ist weder der reibungslos funktionierende Verwaltungsapparat noch die fehlerfreie  Produktionsstätte und am wenigsten die ökonomisch erfolgreiche Bank. Wir Pädagogen müssen klären, ob wir das Risiko der Freiheit eingehen oder den Hauptmann in der Kaserne spielen wollen…