Kästli, S.: Erfolgreiche Betreuung kleiner Kinder aus der Sicht von Emmi Pikler

I. Emmi Pikler und das Lóczy

Emmi Pikler wurde 1902 in Wien geboren. Als Kinderärztin, zunächst in Wien und später in Budapest, war es ihr Ziel, den Kindern eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen und die jungen Eltern darin zu unterstützen, dass sie ihre Kinder mehr beobachten sollten statt sie anzuleiten und in die Entwicklung einzugreifen. Besonders die freie Bewegungsentwicklung des Säuglings war ein wesentlicher Teil ihrer wissenschaftlichen Forschung. Aus diesen Ergebnissen heraus entwickelte sie neue Ideen und Gewohnheiten für die Pflege des Säuglings sowie für die Gestaltung der Umgebung und die Spielmaterialien des Kindes.

Seit 1946 leitete sie das Säuglingspflegeheim Lóczy in Budapest, welches Kinder von an Tuberkulose erkrankten bzw. verstorbenen Eltern, aber auch vernachlässigte Kinder im Alter von 0-3 Jahren aufnahm. Hier setzte sie ihre weitreichenden Erfahrungen um und verwirklichte ihre Grundsätze. Sie leitete das Lóczy bis zu ihrer Pensionierung und begleitete es auch danach noch wissenschaftlich und beratend. 1984 verstarb Emmi Pikler. Heute wird das Institut von ihrer Tochter Anna Tardos in ihrem Sinne geleitet und weitergeführt.

Aufgrund der umfassenden wissenschaftlichen Forschungen wurde das Lóczy als international bekanntes Methodologisches Institut anerkannt. Die WHO zeigte in einer Langzeitstudie von 1972, dass die Kinder aus dem Emmi-Pikler-Institut (Lóczy) keine Bindungsstörungen aufweisen.

Im Lóczy tritt das Hospitalismus-Syndrom nicht auf, da die Mitarbeiter dort erstens für eine achtsame und kooperative Pflege des Säuglings sorgen, über die sie eine gute und enge Beziehung zum Kind aufbauen. Zweitens ermöglichen sie den Kindern konsequent freie Bewegung und greifen nicht in ihre Entwicklung ein.

Drittens schaffen sie für die Kinder eine Umgebung, in der sie ungestört spielen und ihre Umwelt entdecken können.

 

II. Die Arbeit im Lóczy

Achtsame Pflege

Emmi Pikler beschreibt die Pflege des Kindes sehr warm: „Die Liebe, die Sorgfalt muss das Kind umgeben wie ein angenehmes, gleichmäßig, warmes Bad. Das Kind soll – auch wenn wir nicht neben ihm sind – ständig fühlen, dass wir es lieben, dass es sich in Sicherheit befindet, dass wir auf es Acht geben, damit ihm nichts Schlimmes zustößt. Spürt es das nicht, wird es sich nicht gut entwickeln.“ (E. Pikler 1982: 57).

Aus diesem Grund ist die Art der Pflege, die wir* mehrmals täglich mit dem Kind haben, von so immenser Wichtigkeit. Das Einzige, was das Kind nicht allein kann, ist sich selbst zu versorgen. Wenn wir mit behutsamen, liebevollen, geduldigen und entschlossenen Händen dem Kind unsere Achtsamkeit und Wertschätzung zeigen, wenn wir mit dem Kind sprechen, es anlächeln und liebevoll berühren, dann wird das Kind Sicherheit und Geborgenheit erfahren sowie ein echtes Interesse an seiner Person spüren. So entwickelt sich die erste ganz intime Beziehung und liebevolle Kommunikation zwischen Eltern und Kind.

Wenn das Kind in den Zeiten der Pflege diese Liebe spüren kann, dann kann es auch Zeiten, in denen es für sich spielt, ertragen, ohne dass ständig jemand bei ihm sein muss. Durch das selbständige Spielen lernt es, sich auf sich zu konzentrieren und kann sich seinen Übungen ganz hingeben. Ungestört in seinem Tun ohne dass jemand eingreift erfährt der Säugling das Vertrauen in seine Kompetenzen und wird darüber in seinen Autonomiebestrebungen unterstützt.

Achtsame Pflege bedeutet auch Konstanz. Die Pflegerinnen im Lóczy lassen die Kinder bei der Pflege immer wieder die gleichen Handgriffe erfahren, die sie mit ihren Worten einleiten und begleiten, damit das Kind nicht von Unvorhergesehenem „überrascht“ wird. Diese Konstanz alltäglicher Abläufe, liebevoller Aufmerksamkeit und die klare Struktur bietet dem Kind die Möglichkeit, sich in der Welt zu orientieren und darüber hinaus Sicherheit und Geborgenheit zu erfahren. Somit werden über die Pflege des Kindes dessen körperliche und seelische Bedürfnisse befriedigt. (Mit wir sind im Folgenden alle erwachsenen Personen gemeint, die das Kind umsorgen, egal ob Eltern, PflegerInnen oder ErzieherInnen.)

Pickler Vortrag 2008 Bild 1        Pickler Vortrag 2008 Bild 2

Freie Bewegungsentwicklung

 „Beim Erlernen bestimmter höherentwickelter Bewegungsformen spielen das Üben dieser Bewegungen und Gymnastik eine wichtige Rolle. Auch die Kinder im Lóczy üben und turnen in dem Sinne, dass sie die Bewegungen, die eine entwickeltere Bewegungsform vorbereiten, aus eigener Initiative und selbständig immer wieder ausführen. Dies hat im Vergleich zum Üben der Erwachsenen mit Kindern den Vorteil, dass es nicht krampfhaft geschieht, sondern bei guter Muskelkoordination und einer adäquaten statischen Grundposition. Wie wir im Lóczy beobachten können, üben die Kinder nicht nur zeitweise, sondern kontinuierlich, sich zu bewegen. Es ist also ein organischer Bestandteil ihrer täglichen Aktivitäten.“ (E. Pikler 2001, 3.Aufl.: 63).

Nach ihren jahrelangen Beobachtungen an Säuglingen und Kleinkindern vertritt Emmi Pikler die Ansicht, dass sich Kinder aktiv und selbständig in ihrem Rhythmus entwickeln; sie sieht die Eigeninitiative des Kindes und die Rolle des Erziehenden in der Bereitstellung einer Umgebung, die dem Kind den Freiraum für seine eigene Entwicklung ermöglicht. Dabei ist der Erwachsene der einfühlsame Begleiter, der dem Kind neben dem freien Raum, Sicherheit und Respekt bietet.

Emmi Pikler und ihre Mitarbeiterinnen haben ihren Kindern im Lóczy gegenüber grundsätzliche Verhaltensformen entwickelt: Sie legen die Säuglinge immer nur auf den Rücken, solange das Kind noch nicht von selbst eine andere Position einnehmen kann. Auch die Pflege und das Füttern erfolgt in dieser Lage. Nur wenn es sich nicht vermeiden lässt, wird das Kind kurz aufrecht gehalten. Sie bringen das Kind auch nicht zum Sitzen, Stehen usw., wenn es dies noch nicht selbständig kann. Auch locken sie die Kinder nicht, z.B. indem sie die Finger reichen, damit sich das Kind daran hochzieht usw. Sie üben keine neuen Bewegungen und Positionen, sondern beobachten die eigenständigen Entwicklungen des Kindes und freuen sich über das eigene ständige Üben des Kindes und seine kleinen Fortschritte. Ihr Blick ist darauf gerichtet, was das Kind schon kann und nicht darauf, was es noch nicht kann!

Das Kind, das sich ohne die Hilfe und Anleitung des Erwachsenen bewegen darf, ist in seiner Bewegung unabhängig von ihm und kann sich somit besser auf sich selbst konzentrieren. Es ist nicht hilflos und kann sich seiner Entwicklung entsprechend selbst helfen.

Kinder, die schon im Säuglingsalter durch ständiges Betätscheln und Hin- und Hergetragen- Werden, durch „Üben“ und „Fördern“ seitens der Erwachsenen in ihrer Entwicklung gedrängt werden, lernen sehr früh die ständige Animation durch andere Personen und werden sie sich immer wieder einfordern, da sie es nicht gewohnt sind, sich mit sich selbst zu beschäftigen und sich an dem eigenen Tun zu erfreuen. Sie sind abhängig von der Hilfe der Erwachsenen und werden unzufrieden, wenn diese Hilfe ihnen nicht ständig zur Verfügung steht. Des Weiteren ist zu beobachten, dass die Kinder, die ihre Bewegungsentwicklung nach ihrem eigenen Rhythmus bestimmen können und sich erst dann einer neuen Bewegung zuwenden, wenn sie die vorangegangenen sicher beherrschen, sehr geschickt, sicher, umsichtig, vorsichtig und anmutig in ihren  Bewegungen sind. Ihre Sicherheit und Vorsicht schützt sie vor Unfällen und ungesunden Haltungen.

Pickler Vortrag 2008 Bild 3


Freies Spiel

„Bei uns im Lóczy wird die Aktivität und das Interesse der Kinder nicht in eine vom Erwachsenen gewünschte Richtung gelenkt. Im Gegenteil, wir versuchen mit gezielter Organisation Säuglingen und Kleinkindern das freie Spiel so zu ermöglichen, dass sie in den ihnen angenehmen Lagen oder Positionen, die sie selbst aufsuchen oder verlassen, das sie spielen können, was sie möchten und auf die Weise und solange, wie sie es möchten.“

(E. Pikler 2001, 3.Aufl.: 174)

Im Spiel macht das Kind seine eigenen Erfahrungen, hier lernt es seine Welt kennen. Das freie und ungestörte Spiel, mit Materialien, die seiner Entwicklung entsprechen, ist für das Kind der Zugang zur Welt. Sie konstruieren und rekonstruieren ihre eigene Lebenswirklichkeit und lernen auf diese Weise mit allen Sinnen, ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Spielen ist selbständiges, freiwilliges und lustvolles Lernen. Spielend machen die Kinder wertvolle Erfahrungen im emotionalen, motorischen, sozialen und kognitiven Bereich und gelangen an ihre ureigenen Potenziale.

Das Kind, dessen körperliche Bedürfnisse befriedigt sind, widmet sich in wachsamer Aufmerksamkeit, Konzentration und Hingabe der Erforschung seiner Umwelt. Es experimentiert frei mit den Gegenständen der Umgebung und entfaltet somit seine eigene Motorik. Aus diesem Grund sind viele der Spielmaterialien im Lóczy für die freie Bewegungsentwicklung bewusst ausgesucht, wie z.B. Podeste, das Kletterdreieck u. Ä.

Aus eigener Kraft und Hingabe die Welt zu entdecken, dies schafft Vertrauen und Selbstbewusstsein sowie Lust auf weiteres Erproben von „sich in der Welt“. Eine Anleitung und Förderung durch uns Erwachsene braucht das Kind hierfür nicht, wohl aber unsere liebevolle Anwesenheit und Beobachtung.

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Spielmaterialien und Ideen für die „vorbereitete Umgebung“

Je nach Entwicklung des Kindes ändern sich die Spielmaterialien in Größe, Form und Gewicht. Bei allen aber ist wichtig, dass das Kind entsprechend reif ist für das Spielmaterial, das ihm zur Verfügung gestellt wird. Außerdem muss es sicher genug in der Handhabung sein, um Verletzungen zu vermeiden (Verschlucken von Kleinteilen, Verletzungen durch schwere Holzspielsachen, lange Schnüre und Bänder).

Für die ganz kleinen Kinder (ab dem 4./5. Monat) eigenen sich bunte Leinen- oder Baumwolltücher zum Versteckspiel u. Ä. Tücher sind weich und kuschelig und ein Kind kann sich damit häufig sehr lange und intensiv beschäftigen. Als weitere Spielmaterialien für die Säuglinge eignen sich alle möglichen bunten Gefäße, die stapelbar und ineinander zu stecken sind, wie beispielsweise Becher, Schüsseln, Körbe und Metallschüsseln, die einen interessanten Klang erzeugen können. Dabei sollte das Material leicht und gut zu reinigen sein.

Am Anfang sind Greifbälle besonders gut; sie sind leicht, die Kinder stecken gern ihre Finger in die Zwischenräume und wenn sie sie aus der Hand verlieren, rollen sie nicht so weit weg. Wasserbälle und Schwimmreifen, unterschiedlich stark aufgeblasen, sind ebenso hervorragende Spielzeuge.

Auch gut ausgewaschene Plastikflaschen, vielleicht mit Perlen oder Reis gefüllt, können dem Kind viel Freude bereiten. Genauso gern haben Kinder Perlenketten, nur sollten diese nicht zu lang bzw. die Perlen groß genug sein, damit sich die Kinder nicht in irgendeiner Weise verschnüren.

Alle möglichen Arten von Kisten und Kartons, in denen Kinder etwas sammeln bzw. selbst darauf- und durchkrabbeln können, sind für sie ein wunderbares Spielzeug.

Im Haushalt befinden sich also unzählige Materialien, mit und durch die das Kind reiche Erfahrungen sammeln kann, die es begeistern und mit denen es sich lange und intensiv beschäftigen kann.

Für die größeren Kinder, die in ihrer freien Bewegung schon weiter entwickelt sind, bekommen Klettergeräte ihren Reiz. Diese können anfangs feste Kissen sein, Podeste und die Dreiecksleiter, auf oder über die sie klettern können.

Wichtig bei allen Spielmaterialien ist, dass sie sich nicht von allein bewegen, sondern die aktive Handlung des Kindes erfordern. Jedes Spielzeug, das das Kind passiv erfreut, setzt den eigenen aktiven Prozess des Kindes zurück.

 

Literatur und Bildquellen:

Emmi Pikler 2001. (3. Aufl.) Lasst mir Zeit. Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. Zsgest. u. überarb. von Anna Tardos. Pflaum Verlag. München.

Emmi Pikler 1982 (18. Aufl.) Friedliche Babys – zufriedene Mütter. Ratschläge einer Kinderärztin. Verlag Herder Spektrum. Freiburg.

Marian Reismann 1991. Beziehungen, Fotographien. Pikler Gesellschaft Berlin.

Éva Kálló, Györgyi Balog 2003 (3. Aufl.) Von den Anfängen des freien Spiels. Hrsg. von Ute Strub und Anke Zinser. Pikler Gesellschaft Berlin.

Margret von Allwörden, Marie Wiese 2002. Vorbereitete Umgebung für Babys und Kleinkinder. Handbuch für Familien, Krippen und Krabbelstuben. Pikler Gesellschaft Berlin.

 

Zusätzlicher Hinweis der Redaktion:

Es gibt eine drei Stunden lange Dokumentation über die Pickler- Pädagogik, die beim Wege der Entfaltung e.V. bestellt werden: http://www.we-ev.de/shop/video.php

Es gibt auch Ausschnitte auf YouTube: