Die Vorgeschichte
Marian A. wird im März, 3 Wochen vor dem errechneten Geburtstermin geboren. Marian macht in den ersten Wochen seines Lebens einiges mit: er übersteht eine Gelbsucht und eine Lungenentzündung, er hält den Entzug vom Substitutionsmittel seiner Mutter durch, ob er sich auch mit dem HIV Virus infiziert hat ist noch offen.
Seine Mutter, Monika A. liebt ihn sehr und leistet in den ersten Wochen sehr viel um ihn täglich zu betreuen. Sie pendelt zwischen Krankenhaus, Substitutionspraxis, Drogenberatung, Psychiater und Jugendamt. Sie trennt sich vom aktuellen Partner, der weiter in der Drogen Scene verkehrt.
Monika A. wünscht sich sehr nach der Entlassung mit Marian zusammen zu leben.
Das Klinikpersonal erlebt einen Jungen der sich gut stabilisiert und eine Mutter die sich bemüht alles richtig zu machen. Leider erleben sowohl Krankenschwestern, als auch eine Mutter eines anderen Kindes, dass Monika A. mit jemanden der nicht da ist spricht und sich von ihm bedroht fühlt. Der ehemalige Partner beschreibt Verfolgungsvorstellungen Monikas. Während eines mehrtägigen Klinikaufenthaltes werden aber keine Auffälligkeiten offensichtlich.
Der behandelnde psychiatrische Arzt diagnostiziert das Capgrassyndrom – eine seltene Form der Psychose, die teilweise monatelang nicht auftritt. Tritt sie auf, erkennen die Betroffenen die Gesichtszüge nahe stehender Personen nicht mehr. Sie fühlen sich bedroht, es kann zu nicht kalkulierbaren Reaktionen bis hin zu einem erweiterten Selbstmord kommen.
Die zuständige Sozialarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) thematisiert diese Gefahr mit Monika. Monika akzeptiert die Diagnose nicht und besteht darauf nach Marians Entlassung seine Betreuung alleine zu übernehmen. Eine angefragte Mutter Kind Einrichtung lehnt die Aufnahme ab.
Da Monika im Kontakt mit der Kollegin des Jugendamtes häufig von ihren Schwestern – zu denen sie aktuell keinen Kontakt hat, die ihr aber helfen könnten spricht, entsteht die Idee Monika einen Familienrat zur Frage:
Wo soll Marian nach der Entlassung aus der Kinderklinik leben, wie kann ein möglichst intensiver Kontakt zwischen Monika A. und ihrem Sohn gesichert werden? anzubieten. Monika ist einverstanden.
Vorbereitung des Familienrates:
Im ersten Vorgespräch wünscht sich Monika A. die Beteiligung ihrer Mutter (der Vater ist verstorben) ev. deren neuen Partner, ihrer 3 Schwestern, sowie ihrer beiden Brüder ev. mit ihren Ehefrauen. Für die Beteiligung der Familie des Vaters von Marian ist sie nicht zu gewinnen.
Als die, für sie wichtigen Fachleute benennt sie, neben der Sozialarbeiterin des ASDs, den Drogenberater, den Substitutionsarzt, die Sozialarbeiterin des Gesundheitsamtes, die Ärztin und die leitende Krankenschwester der Kinderklinik.
FreundInnen möchte sie nicht beteiligen, da die aus der Drogenscene kommen und sie diese Kontakte beenden will. Kontakt zu einer Kirchengemeinde oder Vereinen hat sie nicht und möchte sie auch nicht aufnehmen.
Im Kontakt zur Familie stellt sich schnell Gabriele A., eine der Schwestern als Hauptbezugsperson von Monika A. vor. Sie ist selbst in einer Führungsposition in einem Unternehmen und sowohl gewohnt als auch bereit Verantwortung zu übernehmen. Die Idee eines Familienrates findet sie eher schwierig, sie ist der Meinung, dass es ausreicht, wenn sie ihre Schwester unterstützt. Sowohl die Mutter als auch die Brüder hätten sich noch nie um Familie gekümmert, es wäre ja auch nicht von ungefähr zu großen Problemen in der Familie gekommen. Parallel zur Vorbereitung des Familienrates wird sie aktiv und sorgt dafür, dass Monika und Marian ein gemeinsames Heim finden. Monika A. zieht bei ihrer Schwester Gabriele ein.
Im telefonischen Kontakt zur Großmutter A., sowie den Brüdern und Schwestern wird große Skepsis über den Sinn eines Treffens deutlich. Die Großmutter sagt „ich bin alt ich kann eh nichts machen“, der ältere Bruder sagt „aus meiner Erfahrung als trockener Alkoholiker kann ich nur sagen– wenn Monika sich der Sucht nicht stellt ändert sich eh nichts“, der andere Bruder sagt „jetzt verspricht Gabriele wieder alles zu regeln und dann klappt es eh nicht lange“.
Trotz der unterschiedlichen Vorbehalte sind die Einzelnen bereit sich zu beteiligen.
Die Vorbereitung der Fachleute findet telefonisch statt. Die Beteiligten erhalten Information über den Ablauf des Familienrates und werden gebeten ihre Informationen zu den Stärken und den Sorgen in Bezug auf Monika A. und Marian knapp darzustellen. Außerdem werden Sie kurze Informationen zu möglicher Unterstützung bereithalten.
Der Sozialarbeiter aus der Drogenberatung, sowie der behandelnde Psychiater werden kurze schriftliche Berichte verfassen, die am Familienrat verlesen werden, da sie selbst nicht anwesend sein können. Der Substitutionsarzt wird für Rückfragen telefonisch bereit stehen, da er zum Termin des Familienrates Sprechstunde halten muss.
Gabriele A. fällt die Vorstellung einer Zusammenkunft immer schwerer, sie äußert in Telefonaten die Befürchtung, dass dann ihre Brüder “bei ihr auf dem Sofa säßen”– eine Befürchtung, die sie auch bei Nachfragen nicht genauer erläutern kann – der Familienrat findet übrigens nicht in ihrem Haushalt statt – doch der bevorstehende Kontakt scheint sie sehr zu bedrücken.
Bei einem persönlichen Treffen mit ihr und den anderen Schwestern wird die Chance, in einem Familienrat zu erarbeiten, wie das neue Familienmitglied Marian versorgt werden soll und die Entscheidung nicht den Fachleuten zu überlassen noch einmal besprochen.
Absprachen zu Termin, Ort und zum Catering werden getroffen.
Gabriele sagt zum Ende des Treffens: „Ich bin in einer Führungsposition, ich bestimme sowieso was gemacht wird, ich will keinen Familienrat.“
Sie wird darüber informiert, dass der Familienrat im Auftrag von Monika durchgeführt wird. Es wäre sehr schade, wenn Gabriele ihren wichtigen Beitrag nicht einbringen könnte. Gabriele überlegt sich nun nur zur Informationsphase zu kommen.
Hier möchte ich einen Kommentar eines erfahrenen Koordinators aus Neuseeland, den ich um Rat gebeten habe, einfügen:
In der Vorbereitung eines Familienrates entfaltet sich manchmal die Familiendynamik, die vielleicht auch zur Entstehung der Schwierigkeiten in der Familie beigetragen hat. Hier liegt die, manchmal über den aktuellen Anlass hinausgehende Wirkung eines Familienrates. Gabrieles teilweise schwer nachvollziehbares Verhalten lässt verschiedene Interpretationen zu:
Es könnte sein, dass einer der Eingeladenen etwas über sie weiß, dass ihr unangenehm ist (Wissen über eine Sucht oder eine Krankheit …),
Es könnte sein, dass sie eine Grenzverletzung durch einen der Eingeladenen erlebt hat und sich dem Kontakt mit der Person nicht aussetzen will. Es könnte selbstverständlich auch etwas ganz anderes sein. Wir können hier nur Hypothesen formulieren.
Wenn es Gabriele gelingt sich den „alten Problemen“ zu stellen, zum Beispiel selbst dafür zu sorgen dass „niemand auf ihrem Sofa sitzt, den sie da nicht haben will“ dann hat sie neben der Unterstützung Marians etwas Wichtiges für sich selbst erreicht. Der neuseeländische Kollege sprach deshalb auch von der „manchmal heilenden Wirkung“ von Familienräten.
In einem weiteren Telefonat mit Gabriele A. versuche ich noch einmal zu klären wie es gelingen könnte, dass sie gut und konstruktiv am Familienrat teilnehmen kann, sie wünscht kein weiteres Gespräch und behält sich vor nicht zum Familienrat zu kommen.
Die Ereignisse überschlagen sich: Marian wird früher als geplant aus der Kinderklinik entlassen, Monika drängt, unterstützt von Gabriele auf eine Entlassung nach Hause. In einem sehr konfliktreichen Gespräch zwischen der ASD Kollegin und der Familie entsteht, nach zähem Ringen, die Einigung Marian für die Woche bis zum Familienrat in einer Bereitschaftspflegefamilie unterzubringen.
In einem letzten Vorgespräch mit Monika A. wird vor allem die Beteiligung Marians im Familienrat besprochen. Monika A schlägt vor Bilder von Marian mitzubringen und die Kinderkrankenschwester und sie selbst werden einen kurzen Bericht über seine Entwicklung geben.
Monika A. entscheidet sich, außerdem den ältesten Bruder auszuladen.
Der Familienrat
Findet in einem großen, freundlichen Raum des Gemeindezentrums statt. Wir sind versorgt mit kalten und warmen Getränken, sowie Keksen und salzigen Snacks, die die Familie mitbringt.
In der Mitte des großen Stuhlkreises ist der Boden um Blumen herum mit vielen Bildern Marians bedeckt, so bleibt Marian immer im Mittelpunkt unseres Gesprächs.
Teilnehmerinnen sind:
Monika und ihre drei Schwestern, auch Gabriele ist da (sie sagt noch bei Betreten des Raums „ich geh dann aber“), ein Bruder und seine Frau, die Mutter von Monika sind ebenfalls da, der älteste Bruder erscheint nicht.
Als Fachleute in der Infophase sind Kollegen/innen aus der Bereitschaftspflege, des ASD, des Gesundheitsamtes, die leitende Ärztin und die Krankenschwester der Station, auf der Marian betreut wurde, anwesend.
Nach der Vorstellungsrunde beginnt die Information durch die Fachleute, obwohl sich alle kurz fassen und auch über viel Positives berichten, ist es für Monika und ihre Familie nicht leicht, nicht in Diskussionen über das Gehörte einzusteigen. Gelegentlich äußern sie andere Sichtweisen, aber schnell wird allen Beteiligten klar, dass die Informationsphase nur zur Vorbereitung der eigentlichen Diskussion in der Familie dient.
Durch das Gesagte wird sehr deutlich, dass die Hauptsorge der Fachleute die psychiatrische Diagnose und die damit einhergehende Unkalkulierbarkeit des Risikos für Monika und Marian ist, dass aber alle den Wunsch haben die liebevolle Beziehung zwischen den beiden zu unterstützen.
Für die Familienphase sind einige wichtige Punkte bereits auf einem Flipchart notiert sichtbar:
Die zentrale Frage: Unser Plan:
- · Was wollen wir erreichen?
- · Was übernimmt die Familie?
(möglichst konkret wer/wann/was/wie lange/wo…)
- · Welche Unterstützung wollen wir vom Jugendamt?
- · Ist die Mindestanforderung erfüllt?
Absprachen zur Ausführung des Plans:
Falls bei der Umsetzung des Plans klar wird, dass der Plan verändert werden muss, wird sich die nächste Gruppe von Teilnehmern versammeln:
- · Familie/dem sozialen Umfeld:
- · Fachleute:
Absprache zur Bewertung/Überprüfung:
Die Bewertung wird stattfinden am (Datum):
- · Anwesende werden sein:
- · Familie/dem sozialen Umfeld:
- · Fachleute:
Der Plan wurde akzeptiert von:
Beim Verlassen des Raums höre ich schon die beginnende Diskussion: „also wenn das so stimmt, dann kannst du das so nicht….“ bereits nach einer Stunde hat die Familie eine Entscheidung getroffen.
In der Entscheidungsphase, präsentiert die Familie ihre Ergebnisse, die Sozialarbeiter/innen stellen Fragen und nach einigen Nachfragen zur Konkretisierung gibt es detaillierte Absprachen und einen Notfallplan.
Hier in der Kürze der Zeit in groben Zügen, der Plan für Marian:
Langfristiges Ziel ist das Zusammenleben Marians mit seiner Mutter,
Monika A. nimmt an einer Drogentherapie in einer Mutter Kind Einrichtung teil, Monika wird bis zur Entgiftung vom Substitutionsmittel bei ihrer Schwester wohnen, Marian soll bis zum Beginn der Therapie in Bereitschaftspflege bleiben, da sich die Familie mit der Diagnose Capgrassyndrom nicht in der Lage sieht die beiden rund um die Uhr zu begleiten. Zur Frage des Capgrassyndroms wird ein zweites Gutachten organisiert. Im Rahmen der Bereitschaftspflege können nur 3 wöchentliche Besuche begleitet werden , das hält die Familie für viel zu wenig für Marian und Monika, sie organisieren die Begleitung von zwei weiteren Besuchen (1x Oma, 1x Gabriele) so, dass Monika und Marian sich an fünf Tagen pro Woche treffen werden.
Für den Notfall / Alternativer Plan in der Zeit bis zur stationären Therapie wird vereinbart, dass die Familie die Telefonnummern der beteiligten SozialarbeiterInnen erhält. Wenn eine Person sich Sorgen um Marian macht nimmt sie Kontakt mit der Kollegin des ASD auf. In Notsituationen ist Gabriele A. neben Monika A. die Ansprechpartnerin für den ASD. Dies gilt auch, sollten die Pläne aus irgendeinem Grund nicht funktionieren. Für grundsätzliche Neuorientierung kann ein neuer Familienrat stattfinden. Eine Telefonliste aller Beteiligten wird dem Protokoll beigefügt.
Fazit
Im Ergebnis des Familienrates entsteht, oberflächlich betrachtet, keine überraschend andere Lösung als sie der ASD vorgeschlagen hätte – auch Überraschungen sind möglich.
Die Qualität liegt in diesem Fall darin, dass die Familie die Notwendigkeit eines umfassenden Schutzes für Marian versteht und um die Unterbringung bittet. Sie liegt darin, dass Monika weitere Schritte in ein Leben ohne Drogen plant. Wichtig ist auch, dass alle Beteiligten vernetzt werden, dass Monika im Rahmen ihrer Familie Unterstützung findet, dass Marian so mehr Zeit mit seiner Mutter verbringen kann, dass die Familie Marians eine eigenständige Beziehung zu ihm aufnimmt.
Natürlich ist ein Ergebnis auch, dass die Kollegin des ASD keinen Antrag bei Gericht stellen musste und im Familienrat das Gefühl entstand, dass Familie und Profis an einem Strang ziehen. Alle Beteiligten wirkten sehr erleichtert.
Ich könnte sagen:
Familienrat entspricht dem sozialarbeiterischen Ansatz eigenverantwortliches Handeln zu stärken, Autonomie zu fördern und vorhandene Ressourcen auch im Sozialraum zu nutzen. Familienrat ist ein weiterer Schritt zur Umsetzung des Grundsatzes der größtmöglichen Aktivierung der Adressatinnen sozialer Arbeit. Familien haben das Recht und auch die Pflicht Entscheidungen zu treffen, dies ist in den Menschenrechten, dem Grundgesetz und auch in unserem Kinder- und Jugendhilfegesetz festgelegt.
Ich könnte aber auch sagen:
Familienrat ist weder eine neue Methode der Sozialarbeit noch besonders innovativ, sondern einfach nur die konsequente Umsetzung des Wissens, dass Menschen die Experten ihres Lebens sind und dafür Verantwortung tragen müssen und können.
Oder wie Edward Tahikari Durie, Rechtsexperte aus Neuseeeland fragt: …was ist schon daran innovativ, wenn Familien Entscheidungen für ihre Kinder treffen?
Und das Fazit für mich als Koordinatorin persönlich?
Aus den Begegnungen mit den Praktikern in unterschiedlichsten Ländern ist mir vor allem der Elan und die Begeisterung, mit der sie von der Arbeit mit Familienrat berichten, in Erinnerung , ich bin richtig neidisch geworden und dachte das wollen wir hier auch. Und dann kam mein erster Familienrat: Durch die zahlreichen Wirrungen im Vorfeld war ich auf große Auseinandersetzungen und ein eher ernüchterndes Ergebnis gefasst. Ich war ehrlich überrascht und sehr gerührt vom verantwortungsvollen Verhalten aller Beteiligten und vor allem auch von der angenehmen Atmosphäre die entstanden ist und eine Lösung in dieser hochemotionalen Frage möglich gemacht hat. Marian hat uns dabei sicher sehr geholfen – wie er da in der Mitte von den Bildern lugte…..
Familienrat bietet die Chance zu erleben was Familien können –
Oder wie Rob van Pagee, einer der Initiatoren der Eigenkracht Centrale immer wieder sagt:
Trust the family