aus einer Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft vom 19.1.2012:
“Die Senatorin für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Sandra Scheeres, hat am 19.01.2012 die Berliner Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder im Nachbarschaftshaus Friedenau eröffnet. In der Anlauf- und Beratungsstelle werden die ehemaligen Heimkinder auf der Basis des seit Jahresbeginn bundesweit eingerichteten Fonds Unterstützung erhalten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen die Betroffenen bei ihren Anträgen beraten sowie die Hilfeleistungen bearbeiten.
„Den ehemaligen Heimkindern wurde großes und vielfaches Leid und Unrecht zugefügt. Ein Leid, das für Außenstehende kaum ermesslich ist, das auch nicht rückgängig oder ungeschehen gemacht werden kann. Wir wollen aber sicherstellen, dass die ehemaligen Heimkinder unbürokratische Hilfe und Unterstützung bekommen. Mit der Eröffnung der Anlauf- und Beratungsstelle ist deshalb ein wichtiges Etappenziel erreicht. Berlin wird den Handlungsspielraum bei der Gewährung der Hilfeleistungen nutzen und im Sinne der Betroffenen handeln“, so die Senatorin Sandra Scheeres.
Der Runde Tisch Heimerziehung befasste sich über zwei Jahre intensiv mit der Heimerziehung der damaligen Zeit. In seinem Abschlussbericht empfahl er sowohl die Einrichtung von Anlauf- und Beratungsstellen für ehemalige Heimkinder, als auch die Schaffung eines gemeinsamen Fonds für Rentenersatzleistungen für damals vom Heim nicht gezahlte Rentenbeiträge sowie für Leistungen zur Milderung von Folgeschäden. Die Hilfemöglichkeiten sind flexibel und sollen dem persönlichen Bedarf entsprechen. Dabei kann es sich beispielsweise um die Unterstützung eines bedarfsgerechten Umbaus einer Wohnung oder aber um Übernahme von Kosten für therapeutische und ergänzende medizinische Behandlungen handeln.
Aus Sicht der Senatorin soll die Berliner Anlauf- und Beratungsstelle aber auch über den eingerichteten Fonds hinaus eine wichtige Rolle spielen. „Sie soll zum Treffpunkt für alle Betroffenen werden, das Wissen über die Geschehnisse der damaligen Zeit in die Öffentlichkeit tragen und den notwendigen weiteren Dialog befördern. Die Aufarbeitung soll hier vorangetrieben werden“, so Sandra Scheeres.
Auch in der DDR haben viele Kinder und Jugendliche schweres Leid und Unrecht in Heimen erfahren. Die Konferenz der Jugend- und Familienminister hat im Mai 2011 beschlossen, dass auch die ehemaligen DDR-Heimkinder vergleichbare Leistungen zur Bewältigung der Folgen ihrer Heimerziehung bekommen müssen.
Die Anlauf- und Beratungsstelle wird bereits jetzt den ehemaligen Heimkindern aus der DDR offen stehen. Dort können sie sich treffen und gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Anlauf- und Beratungsstelle nach Verbesserungsmöglichkeiten für Folgen aus der Heimerziehung suchen und entsprechende Anträge vorbereiten.
Die Anlauf- und Beratungsstelle befindet sich im Nachbarschaftshaus Friedenau, Holsteinische Straße 30, 12161 Berlin. Sie ist unter der Telefonnummer 030 / 859951-66 zu erreichen.”
Kommentar der Berliner Regionalgruppe ehemaliger Heimkinder und UnterstützerInnen:
Wir begrüßen die Einrichtung der Beratungsstelle nebst Treffpunkt für die in Berlin lebenden ehemaligen Heimkinder aus West und Ost.
Es handelt sich nicht um eine Einrichtung des Berliner Senats. Sie wurde vielmehr von der Berliner Regionalgruppe in einer 2008 begonnenen Auseinandersetzung, gegen anfangs starke Widerstände aus Politik und Verwaltung, als unabhängige Beratungsstelle konzipiert, gefordert und schließlich durchgesetzt. Sie ist die einzige unabhängige Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder in der Bundesrepublik und orientiert sich an dem Vorschlag der ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch Heimerziehung (RTH).
Wir begrüßen, dass der von uns vorgeschlagene, von den Kirchen und dem Öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendarbeit in Berlin unabhängige, Träger die Beratungsstelle in enger Kooperation mit der Berliner Regionalgruppe, orientiert an Erfahrungen und Bedürfnissen ehemaliger Heimkinder, betreiben kann.
Wir kritisieren, dass die mit der Senatsverwaltung vereinbarte Unabhängigkeit, durch die erzwungene Besetzung einer der beiden BeraterInnenstellen, mit einem Bediensteten der oberen Landesjugendbehörde, verletzt worden ist. Die Weisungsbefugnis und Dienstaufsicht über ihn hat zwar der Träger, die Personalhoheit aber nicht. D.h. er muss nicht, wie die anderen MitarbeiterInnen, eine Probezeit absolvieren und kann bei nicht zu regelnden Konflikten auch nicht entlassen werden, wie es bei jedem freien Arbeitsvertrag möglich ist. Diese Kritik richtet sich nicht gegen diesen Mitarbeiter selbst, sondern gegen das obrigkeitsstaatliche Verfahren seiner Einsetzung.
In Übereinstimmung mit allen anderen Zusammenschlüssen ehemaliger Heimkinder in der Bundesrepublik und mit ihren VertreterInnen am RTH, halten wir die von Bund, Ländern und Kirchen abgelehnte Forderung nach einer Opferrente von mtl. 300,– Euro bzw. einer Einmalzahlung von 56 000 Euro aufrecht. Die von den Fondsbetreibern (Bund, Länder, Kirchen) gegen die Vorschläge und den Willen der in den Gremien mitarbeitenden ehemaligen Heimkinder durchgesetzten Kriterien für Folgeschäden aus der Heimerziehung, verhindern einen angemessenen Ausgleich für das den Heimkindern zugefügte Unrecht und Leid. Zu den Folgeschäden gehören auch die durch Kinder- und Zwangsarbeit in den Heimen stark beeinträchtigte schulische und berufliche Bildung und die dadurch erheblich geminderten Lebenschancen. Dieser Zusammenhang wird von Bund, Ländern und Kirchen nach wie vor nicht anerkannt.
Wir orientieren uns an den von der Bundesarbeitsgemeinschaft ehemaliger Heimkinder (AFH) erarbeiteten Kriterien für die Anträge an den Fonds und erwarten von der Anlauf -und Beratungsstelle eine entsprechende Unterstützung.
Wir kritisieren, dass der Berliner Senat, entgegen unserer am 17.11.2011, in Übereinstimmung mit allen organisierten ehemaligen Heimkindern in der Bundesrepublik, der Obersten Landesjugendbehörde mündlich und schriftlich vorgetragenen Kritik, sich die Kosten für diese Beratungsstelle aus dem für die ehemaligen Heimkinder eingerichteten zentralen Fonds zurückholt, statt sie aus eigenen Landesmitteln zu finanzieren. 12 Millionen Euro nehmen sich die westdeutschen Bundesländer und Berlin aus diesem Fonds für die Kosten der Anlauf- und Beratungsstellen. Das sind 10 % der Gesamtsumme.
Ebenfalls in Übereinstimmung mit allen organisierten ehemaligen Heimkindern lehnen wir die rechtswidrige (Artikel 19 Abs. 4 GG), umfassende Verzichtserklärung ab. Wir akzeptieren die Bedingung nicht, mit der die AntragstellerInnen für alle Zukunft auf Forderungen gegen die Träger der Heime, in denen sie als Kinder und Jugendliche gelitten haben, verzichten sollen. Angesichts der von den Fondsbetreibern maximal zugestandenen 10 000 Euro für Sachleistungen zur Milderung von „Folgeschäden“ und maximal 6000 Euro für Rentenersatzleistungen (einmalig!) ist das eine sittenwidrige Nötigung. Wir fordern die MitarbeiterInnen aller Anlauf- und Beratungsstellen in Deutschland auf, dieses Ansinnen, dass sie gegen die von ihnen zu beratenden ehemaligen Heimkinder durchsetzen sollen, zurückzuweisen.
Für die Anlauf- und Beratungsstelle in Berlin wird ein Beirat gebildet, der neben fachlicher Beratung des Trägers und der MitarbeiterInnen im Konfliktfall auch Ombudsfunktionen für ehemalige Heimkinder haben soll. Wir gehen davon aus, dass die Mitglieder des Beirats nur im Einvernehmen zwischen der Senatsverwaltung und der Berliner Regionalgruppe berufen werden. Mindestens drei ehemalige Heimkinder (Frauen/Männer – Ost/West) sollten Sitz und Stimme in dem Gremium haben.
Für alle in Berlin lebenden ehemaligen Heimkinder, die den Austausch mit Frauen und Männern suchen, die ähnliche Erfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend machen mussten, wird die Berliner Regionalgruppe ehemaliger Heimkinder auch weiterhin ein Treffpunkt sein, der selbstbestimmte gegenseitige Unterstützung und Hilfe ermöglicht, in dessen Zusammenkünften die eigenen schweren Erfahrungen zur Sprache gebrachtwerden können und in denen sievorbehaltlos und solidarisch aufgenommen werden.
Für die Berliner Regionalgruppe und ihre UnterstützerInnen
Peter Bringmann-Henselder