Arbeitskreis Individualpädagogische Maßnahmen: Offener Brief an MP Jürgen Rüttgers

Bezug nehmend auf den 28. Landesparteitag der CDU NRW vom 5. Mai 2007

 

Sehr geehrter Herr Rüttgers,

als pädagogisch verantwortliche Leitungsfachkräfte von Jugendhilfeeinrichtungen, die sich im Arbeitskreis individualpädagogische Maßnahmen NRW e. V. zusammengeschlossen haben, verfolgen wir mit Sorge die aktuelle jugendhilfepolitische Diskussion zum Thema „Erziehungscamps“[1].

 

Unbestreitbar ist, dass viele Jugendliche, die in der heutigen Zeit in kriminelle Milieus abgleiten, Suchtverhalten entwickeln und/oder eine vermehrte Gewaltbereitschaft zeigen, durch standardisierte Regelangebote der Jugendhilfe kaum zu erreichen sind.

 

Wir teilen die von Ihnen vertretene Auffassung, dass Straftaten von Jugendlichen nicht verharmlost werden dürfen und dass die Leiden der Opfer dieser Straftaten nicht relativiert werden dürfen, weil die Täter möglicherweise „eine schwere Kindheit“ hatten.

 

Vor dem Hintergrund einer Beobachtung, dass Jugendhilfemaßnahmen in der Öffentlichkeit häufig als Entlastung von Verantwortung, verbunden mit komfortabler Versorgung und Freizeitvergnügen wahrgenommen werden, während gleichzeitig kriminelle Aktivitäten fortgeführt werden können, ist ein gesellschaftliches Bedürfnis nach härteren Konsequenzen verständlich.

 

Aus unserer Sicht besteht eine wesentliche Aufgabe der Jugendhilfe darin, Jugendliche, die gegen grundlegende Regeln des sozialen Zusammenlebens verstoßen, einerseits für ihr Verhalten in Verantwortung zu nehmen, andererseits die Grundlagen dafür zu schaffen, dass sie ihr Verhalten in Bezug auf ihre künftige Lebensgestaltung nachhaltig ändern können.

 

Eine Unterbringung in „Erziehungscamps“ erscheint vordergründig gut geeignet, um diese beiden Aspekte miteinander zu verbinden. Als Vertreter des AIM sind wir allerdings der Auffassung, dass hier durch das kurzfristige Eingehen auf ein nachvollziehbares gesellschaftliches Gerechtigkeits- und Ordnungsbedürfnis nachhaltige Integrationserfolge eher behindert als gefördert werden.

Jugendliche, die wiederholt straffällig werden, kompensieren in der Regel ein deutlich gestörtes Selbstwertgefühl und haben keine soziale Perspektive, die ihnen persönlich lohnenswert erscheint. Resozialisierungsmaßnahmen, die in dieser Situation auf die Bereitschaft zu sozialer Unterordnung und die Aufgabe einer (aktuell negativen) individuellen Identität setzen, führen in ihrer unmittelbaren Wirkung tatsächlich häufig dazu, eine vordergründige resignative Anpassungsbereitschaft zu provozieren. In der Regel werden vorhandene Probleme hierdurch aber lediglich in die Zukunft verschoben. Wer sein Leben durch Bereitschaft zur Unterwerfung und durch mechanisches Reagieren auf Strafen und soziale Vergünstigungen einrichtet, wird in der heutigen Gesellschaft, in der es vornehmlich auf Flexibilität und persönliche Initiative ankommt, kaum Perspektiven finden, in denen die neu erworbene Lebenseinstellung sozial angemessen einsetzbar ist. Vielfältige Erfahrungen zeigen, dass junge Menschen mit einer derartigen Erziehungsgrundlage im Erwachsenenalter oft entweder erneut straffällig werden oder sich rechtsradikalen Organisationen anschließen, in denen eine persönliche Identität sowieso hinderlich wäre. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass sie später durch Ausübung familiärer Gewalt zum Grundhilfebedarf der nächsten Generation beitragen.

 

Nach unserer Überzeugung, entstanden in langjähriger Erziehungshilfetätigkeit, beinhalten bestehende Jugendhilfeangebote gute Möglichkeiten, um auch delinquenten Jugendlichen mit einer ausgeprägten Verweigerungshaltung eine persönliche Lebensperspektive zu bieten, die die Bereitschaft zur Übernahme persönlicher sozialer Verantwortung einschließt (siehe die aktuelle Evaluationsstudie[2]). Voraussetzung hierfür ist allerdings eine sorgfältige, an den konkreten Lebenssituationen der jeweiligen Jugendlichen ausgerichtete individuelle Hilfeplanung und –gestaltung. Als eine wesentliche Aufgabe für die nahe Zukunft sehen wir es an, die Dienste verschiedener gesellschaftlicher Institutionen, die heute schon vorhanden sind, besser als bisher miteinander zu vernetzten, so dass diese im Sinne einer gut abgestimmten Hilfeplanung miteinander kooperieren können. In einer gelungenen Verbindung zwischen einem persönlichen Beziehungsangebot durch Mitarbeiter der Jugendhilfe, Zusammenarbeit mit Justiz und Bewährungshilfe einerseits und Bildungseinrichtung, Therapeuten und jugendpsychiatrischen Kliniken andererseits sind nachhaltige persönliche Reifungsprozesse von Jugendlichen möglich, die ohne eine solche Kooperation undenkbar erscheinen.

 

Wir möchten Sie dringend bitten, durch eine Unterstützung zielgenauer individueller Hilfen und bessere Vernetzung der vorhandenen fachlichen Möglichkeiten auf nachhaltige, an der konkreten Persönlichkeitsentwicklung ansetzende Jugendhilfemaßnahmen zu setzen. Gleichzeitig möchten wir Sie bitten, Abstand zu nehmen von der Förderung einer Jugendhilfepolitik, in der durch kurzfristige, an populistischen Ordnungs- und Gerechtigkeitsbedürfnissen orientierte Disziplinierungsmaßnahmen Probleme in der Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen lediglich um einige Jahre in die Zukunft verlagert werden, um dann mit hoher Wahrscheinlichkeit in verschärfter Form erneut hervorzutreten.

 

Für eine persönliche Diskussion und eine differenzierte Erläuterung der von uns vertretenen fachlichen Überzeugung stehen wir jederzeit gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

 

Vorstand AIM e. V.

Gerd Lichtenberger

Wolfgang Müller

Peter Krause

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[1] Verweis auf den 28. Landesparteitag der CDU NRW vom 5. Mai 2007 in Siegburg und den dort verfassten Beschluss des 28. Landesparteitags der CDU Nordrhein-Westfalen, 5. Mai 2007, Rhein-Sieg-Halle, Siegburg: „Jugend schützen. Gewalt bekämpfen. Härter durchgreifen!“

[2] Evaluationsstudie „Jugendliche in individualpädagogischen Maßnahmen“, durchgeführt vom Institut für Soziale Praxis des Rauhen Hauses (isp) in Hamburg im Auftrag des AIM e. V., 2007. Download unter www.aim-im-netz.de