A. Hahn: Abschied ohne Wiederkehr – Von den Problemen, eine professionelle Praxis des Abschiednehmens zu gestalten

  • Ausgabe 1/2, 2007

Seit vielen Jahren arbeite ich fast ausschließlich mit Jugendlichen. Jugendliche, die mit 14, 15 oder 16 Jahren in meine Gruppe kommen und nach ca. 1 – 2  Jahren, manche auch nach  3 – 4  Jahren Abschied nehmen und gehen. Gegangen sind einige nach Hause, wenige in andere Projekte oder Einrichtungen, aber der größte Teil ging in unsere WG oder in ein BEW bzw. in die eigene Wohnung.

 

Für uns bedeutet es immer, mit wenig Zeit umzugehen.

Wenig Zeit für Jugendliche, die mit vielen verschiedenen Problemen zu uns kommen, Probleme wie Vernachlässigung, ohne Vater aufzuwachsen, Gewalt, Einsamkeit, Tod eines engen Verwandten, Schulschwänzen und Drogen, um nur einige zu nennen.

In dieser kurzen Zeit muss es gelingen:

  • schnell zu den Jugendlichen Kontakt zu bekommen, Vertrauen zu gewinnen und tragfähige Beziehungen aufzubauen,
  • sie mit dem neuen Umfeld bekannt zu machen,
  • Ziele zu entwickeln,
  • Ressourcen offenzulegen und zu nutzen,
  • den Kontakt zur Herkunftsfamilie zu pflegen,
  • Außenkontakte zu suchen,
  • Freizeitinteressen zu wecken sowie
  • die Schul- bzw. Ausbildungsziele zu unterstützen.

UND ! Wir bearbeiten parallel die oben angeführten Probleme.

Zu schnell vergeht oft die Zeit für diese wichtigen Ziele, manchmal sind es nur wenige Monate.

Außerdem! Vergessen wir nicht die ganz privaten eigenen Auseinandersetzungen mit dem eigenen Ich – dem Kumpel, der Freundin, dem Freund – dem Trainer, der Schulfreundin oder – dem Mitbewohner.

Vieles will und soll erlernt – erlebt – und erfahren, bearbeitet – erledigt und erreicht werden.

Viel zu schnell wird von Verselbständigung gesprochen.

Verselbständigung? Nur weil man 16 oder 17 Jahre ist?

Nur, weil Mädchen gern Zukunftspläne schmieden und Gedanken zu Partnerschaft und Kindern äußern?

Nur, weil Jungen durch die verrücktesten Aktionen ihre Männlichkeit beweisen wollen?

Mädchen sind bemüht, ihr Können in den hauswirtschaftlichen Bereichen zu zeigen. Sie können allein aufstehen,… und sich gut ihr Taschengeld einteilen. Sind sie zwei Jahre den Jungen voraus?

Jungen quälen und mogeln sich durch diese Phase, wissen oft nicht um ihre Bedeutung und würden lieber andere bequemere Alternativen wählen. Aber alle arbeiten früher oder später in unserer Jugendwohngruppe am Ziel Verselbständigung, nur meistens nicht in erster Linie für sich.

Und alles in so kurzer Zeit.

Und wie endet diese kurze Zeit intensiven Lebens bei uns?

 

Mit dem Abschiednehmen.

Abschied heißt nicht nur die Trennung von Personen, sondern überhaupt die Lösung aus einem vertrauten Umfeld und ein Übergang in neue Bezüge mit veränderten Erwartungen und Verpflichtungen.

 

Wann fängt das Abschiednehmen an?

Lange vor dem letzten Tag.

Monate vor dem Auszug äußern die Jungen und Mädchen erste eigene Gedanken, die wir mit ihnen zu konkreten Zielen formen und formulieren. Diese Gedanken sind eine WG, ein BEW oder die eigene Wohnung als nächster Lebensort, was bei uns, wie gesagt, nicht selten ist, meistens erleben die Jugendlichen das gerade bei einem Mitbewohner.

Wenn wir sie mit einer groben Bestandsaufnahme ihres Könnens und ihrer Kompetenzen im Bereich Verselbständigung in Form eines Fragebogens konfrontieren, wird ihnen etwas bewusster, welches Ziel sie sich gesetzt haben.

Wir versuchen sie dann mit Wochenplänen und Übungsaufgaben zum Verselbständigungsbereich fit zu machen. Sie legen einen eigenen Hefter an, wo sie alle Aufgaben sammeln. Dieser Hefter ist ein kleiner praktischer Beweis ihres Könnens. Und jeder braucht ihn für sich anders: „Je dicker er ist, je länger arbeite ich an mir…, – mein Selbstvertrauen wächst ein wenig mehr…, – das würde mir sonst sowieso keiner glauben, das ich so was kann…“ und Stolz auf das Erreichte wird sichtbar:“….. wenn ich die Ergebnisse meinen Eltern und dem Jugendamt zeige…, – und in der Wohngruppe bin ich eine der Reiferen…, – ich ziehe ja als Nächste aus“ – Abschied nehmen.

 

Dieser Prozess, den wir bis zum Auszug begleiten und gestalten und, den wir als Teil der Vorbereitung auf das selbständige Leben bezeichnen, heißt aus meiner Sicht Abschied nehmen. Und am Ende nehmen die Jungen und Mädchen Abschied von vertrauten Erwachsenen, Abschied von Freunden und Mitbewohnern, Abschied von vertrauten Regeln, Ritualen und Traditionen. Abschied heißt aber auch Ausblick und das ist gleichzeitig das Motivierende, das Drängende. Die Neugier auf Freiräume, das Abenteuer der Eigenverantwortung, die Anstrengung zur Selbstdisziplin, die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, das Leben in den eigenen vier Wänden, entwickeln von Regel und Normen, die für mich und bei mir gelten. All das ist toll, ist der Ausblick beim Abschied.

Aber reicht das?

 

Es ist dann doch viel mehr.

Es ist das Wissen um den genauen Ablauf des Prozesses von der Entscheidung bis zum Auszug. Das Reden über Freunde, Freundschaft und Einsamkeit oder über das Thema Liebe und Partnerschaft. Wie schaffe ich das mit der Schule, der Ausbildung? Wie lerne ich es, allein aufzustehen? Wer ist mein Betreuer? Ist er nett, kann ich ihn auch alles fragen? Wo bekomme ich was für die Wohnung? Wie viel Geld habe ich für was zur Verfügung? Wie gestalte ich den Kontakt zu meinen Eltern?

Und tausend andere Fragen, die im Laufe der Zeit beantwortet werden wollen.

Wichtig ist es, das die Mädchen und Jungen ihre Ängste und Sorgen äußern können.

Sind sie besprochen und bearbeitet, erleben die Jugendlichen sie nicht als bedrohlich, sondern eher als Vorsichtsbarometer.
Was kann in dieser Zeit helfen?

  • Das Erreichte während der Zeit bei uns einfach mal aufschreiben.
  • Gruppenspiele nutzen, damit sich jeder den anderen mit seinen Stärken zeigen kann.
  • Phantasieanregende Spiele zum Thema eigene Wohnung, Ziele und Träume, Berufswünsche u.ä. anbieten, Spaß und positiven Ausblick fördern.
  • Das neue Leben näher beschnuppern.

 

Das bedeutet zum Beispiel mit dem Betreuer der Ambulanten Hilfen über das BEW sprechen oder mit Frau Klein und Frau Schwerin die WG anschauen und am WG Tag teilnehmen…

Die Jugendlichen wissen, dass wir sie in Form einer Fallvorstellung im Team der Ambulanten Hilfen vorstellen und bereiten diese mit uns vor.

Die Wohnung suchen, die Besichtigungstermine, die Entscheidung, Absprachen mit dem Jugendamt und Mietvertrag unterschreiben lassen sind einige der nervenaufreibenden aber auch spannenden Phasen der Verabschiedung bei uns. Ihnen Mut zusprechen, alles erklären, sie begleiten und gemeinsam auf Entscheidungen warten, gehören genauso dazu wie trösten, sich freuen, schimpfen und sich ärgern. Aber so ist das eben, wenn Jugendliche ausziehen.

 

Es kommt aber der Zeitpunkt, wo klar ist, an welchem Tag der Auszug stattfindet. Nun geht es in die heiße Endphase. Es wird geplant und organisiert, gekauft und besorgt, sortiert und gepackt.

Die Jugendlichen besprechen mit uns, wie sie sich verabschieden möchten.

Tradition ist eine Abschlussfeier: Beispiele

  • Feier in der Wohngruppe mit Spielen und kaltem Büffet
  • Bowlingspielen gehen
  • Theaterbesuche
  • Kinobesuche
  • Eisessen
  • In einer Gaststätte zu Abend essen
  • Gartenparty mit Grillen

Außerdem erhält jeder bei uns ein Fotoalbum und einen Vorratskorb für die erste Essensversorgung, unter anderem mit ihren „Lieblingsnahrungsmitteln“ bestückt. Da fehlt natürlich nicht das Nutella zum Frühstück, der Kakao für die Milch und die große Tüte Kornflaks.

Man schreibt als Betreuer einen Brief oder ein Gedicht zum Abschied und vervollständigt das Fotoalbum mit eigenen und fremden Weisheiten. Aber auch die coolsten Sprüche des Jugendlichen während der Wohngruppenzeit oder die lustigsten Erlebnisse werden verewigt.

Und natürlich bekommt jeder einen Lebensordner mit seinen eigenen Unterlagen und seinen Hefter mit den Übungsaufgaben zur Verselbständigung mit.

Die Telefonnummern werden ausgetauscht, das erste Wiedersehen vereinbart, eine Grünpflanze für die Wohnung überreicht und dann?…

 

Und doch sind wir im subjektiven Erleben der jungen Menschen oft wichtig. Besinnen wir uns im Alltagsgeschäft darauf, dass wir für Jugendliche mehr Bedeutung erlangen, als sie uns zeigen, als wir bei ihnen vermuten oder als wir gar aushalten und ertragen können?

 

Dann beginnt die Zeit danach:

Viele Jugendliche besuchen uns am Anfang sehr regelmäßig. Sie berichten von dem neuen Leben, ihren Erfolgen und Schwierigkeiten.

Sie lassen uns nahtlos teilhaben und wollen auch aus der alten Wohngruppe alles Neue wissen.

Bald werden die Besuche seltener, aber der Kontakt zu den Betreuern wird trotzdem gehalten. Man sieht sich zum Frühstück, zum Geburtstag oder in der Wohngruppe. In den ersten beiden Jahren sind es im Schnitt mind. 6x.

Auch in den folgenden Jahren bricht der Kontakt nicht ganz ab. Die persönlichen Besuche sind seltener, aber dafür nutzt man dann das Telefon.

In den vielen Jahren habe ich viele Jugendliche verabschiedet, zu einigen habe ich heute noch Kontakt. Meistens konnte ich den Kontakt ca. 3-5 Jahre aufrechterhalten, bei Einzelnen auch länger. Die intensivsten Kontakte hatte ich zu Jugendlichen, für die ich Bezugs-Betreuer war.

Es gab auch sehr bedürftige junge Erwachsene, die mich an meine eigenen Grenzen brachten.

Es ist einfach, eine Rolle im geschützten Rahmen der beruflichen Tätigkeit auszufüllen. Es ist aber sehr schwer, diese Rolle privat weiter anzubieten.

Die meisten jungen Erwachsenen, zu denen ich heute noch Kontakt habe, wollen von ihren Erfolgen erzählen, ihre Kinder zeigen und über alte Zeiten reden. Selten suchen sie konkrete Hilfe. Aber manchmal wird auch gemeinsam eine Wand tapeziert, sich Material ausgeborgt, Anleitung zum Fliesen eingefordert, meine Nähkünste abgerufen, Mathenachhilfe verlangt, ein Rezept nachgefragt und Hilfe bei der Jobsuche erbeten.

Jeder Abschied ist Ausdruck der vorangegangenen Beziehung. Deshalb von gewohnten Beziehungs- und Kontaktweisen nicht allzusehr abweichen, sonst wirkt es unecht und aufgesetzt.

Ich finde das manchmal ganz schön anstrengend, wenn es sich häuft, aber man vermisst es auch, wenn zufällig mal einen Monat sich gar keiner von den Ehemaligen meldet.

 

Ehemalige oder Wiederkehrer.

Ehemalige und Wiederkehrer?

Waren es Abschiede ohne Wiederkehr? Einige ja, obwohl ich glaube, dass auch sie, die sich nie gemeldet haben, manchmal an uns zurückdenken. An die Zeit in unserer Wohngruppe, an die Mitbewohner und an uns Betreuer.

Viele suchen den Kontakt mehr oder weniger, was mich aber sehr beruhigt. Schließlich ist auch das ein wichtiger Teil unserer Arbeit, verlässliche Kontaktpersonen für die Zeit nach uns mit den Jugendlichen zu suchen. Wir machen Eltern fit, aktivieren Großeltern und andere Verwandte, motivieren Trainer, Nachbarn, Freunde.

Wir brauchen sie als Ansprechpartner für die Jugendlichen. Sie müssen mindestens Rat geben und helfen können. Aber wir selbst als Betreuer werden nicht immer um diese Rolle herumkommen und müssen es jeder mit seinem Gewissen ausmachen, wie lange und wie intensiv manche junge Erwachsene uns noch brauchen.

Mich brauchen zurzeit 2 Jungen persönlich. Gegenseitige Besuche finden mit 3 Jugendlichen statt. Telefonischen Kontakt habe ich mit 5 Jugendlichen.
Noch eine Erinnerung zum Thema Wiederkehr: Das Ehemaligen-Treffen des Kinderhauses von vor ca. 5 Jahren:

Ist es ein Zeichen der Wiederkehr, wenn eine verschollene Stimme von ca. 32 Jahren sich mir nähert und mich begrüßt mit den Worten:

„Na Höhni, erkennen Sie mich wieder?….“

Ein „Sie“, dass befremdlich und zugleich vertraut aus alten Zeiten sofort verbindet und Erinnerungen weckt.

Sie ist eine fremde Frau, die mir mit vertrauter Stimme erzählt, wie unglücklich sie in ihrer Ehe ist, dass sie zwei Kinder hat und Hausfrau ist. Sie wirkt sehr traurig. Sie erzählt mir diese intimen Einzelheiten und einiges mehr während lauter Musik, schwirrenden Stimmen um uns herum und mit einem Becher Brause in der Hand auf einer Biertischbank sitzend. Ich habe das Gefühl eine Glocke bildet sich um uns herum. Ich bin wieder ihre Erzieherin wie vor 18 Jahren. Ich höre zu, frage nach und höre zu. …………… Wiederkehr von Erinnerungen, der Stimme, der Gefühle? Aber reicht das für mehr?

Die Glocke verschwindet. Ich gebe weise Ratschläge von Frau zu Frau, der Frau, die nur 5 Jahre jünger ist, die zwei Kinder hat wie ich und die verheiratet ist wie ich.

Wir tauschten die Adressen und Telefonnummern aus, umarmen uns und haben bis heute beide den Kontakt nicht wieder aufgenommen. Aber ich weiß aus dem Gespräch, dass sie verlässliche Kontakte zu ihren Pflegeeltern hat, die sich kümmern werden!

 

Es gibt so viel zu diesem Thema zu sagen! Kommen sie ins Gespräch! Es ist wirklich wichtig!

Trauen sie sich auch bei Kindern nachzufragen, wie sie Abschiede erlebt haben, stellen sie sich jugendlicher Kritik zu diesem Thema und betrachten Sie ihre eigenen Erfahrungen.

Der geglückte sanfte Abschied meint Innehalten und dabei Nachspüren.